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Die Frau des Zeitreisenden

Die Frau des Zeitreisenden

Titel: Die Frau des Zeitreisenden Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Audrey Niffenegger
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dass Andrew Marvell einer seiner Lieblingsdichter ist und Henry sich einzig und allein auf die Zukunft bezieht.
    »Auf Schnee und Jesus und Mama und Daddy und Katgut und meine neuen Basketballschuhe von Converse«, sagt Alicia, und alle müssen wir lachen.
    »Auf die Liebe«, sagt Nell und sieht mich mit ihrem breiten Lächeln unverwandt an. »Und auf Morton Thompson, den Erfinder vom saftigsten Truthahn der Welt.«
     
    Henry: Während des gesamten Essens ist Lucille wie wild zwischen Traurigkeit, Hochgefühl und Verzweiflung hin und her geschwankt. Die Familie hat ihre Stimmung vorsichtig umschifft, hat Lucille immer wieder auf neutralen Boden gelenkt, sie abgefangen und beschützt. Als wir uns jedoch hinsetzen und mit dem Nachtisch beginnen, bricht sie zusammen und schluchzt lautlos, ihre Schultern beben, und sie wendet den Kopf ab, als wollte sie ihn unter einen Flügel stecken wie ein schlafender Vogel. Anfangs fällt es nur mir auf, und ich sitze entsetzt da, unsicher, was ich tun soll. Dann sieht Philip sie, und schließlich verstummt der ganze Tisch. Schon ist er auf den Füßen und an ihrer Seite. »Lucy?«, flüstert er. »Lucy, was ist denn?« Clare eilt ebenfalls zu ihr und sagt: »Ach komm, Mama, ist schon gut, Mama...« Lucille schüttelt den Kopf, nein, nein, nein, und ringt die Hände. Philip weicht zurück, und Clare sagt: »Seht!«, worauf Lucille eindringlich, aber nicht sehr deutlich spricht: Ich höre einen Schwall von Unverständlichem, dann »Völlig falsch«, und dann »Ruiniert seine Chancen«, und schließlich »In dieser Familie hört einfach niemand auf mich« und »Scheinheilig«, und dann Schluchzen. Zu meiner Überraschung bricht Großtante Dulcie das verstörte Schweigen. »Kind, wenn hier jemand scheinheilig ist, dann du. Du hast damals genau das Gleiche getan und ich wüsste nicht, dass es Philips Karriere auch nur im Geringsten geschadet hätte. Im Gegenteil, es hat ihr genützt, wenn du mich fragst.« Lucille hört auf zu weinen und starrt ihre Tante an, stumm vor Schock. Mark sieht zu seinem Vater, der einmal nickt, und dann zu Sharon, die grinst, als hätte sie beim Bingo gewonnen. Clare scheint nicht sonderlich erstaunt zu sein, und ich frage mich, warum sie es wusste und Mark nicht, ich frage mich, was sie sonst noch weiß, ohne es mir zu erzählen, und dann wird mir klar, dass Clare alles weiß, sie kennt unsere Zukunft, unsere Vergangenheit, alles, und ich erschaudere in dem warmen Raum. Etta serviert den Kaffee, und wir trinken ihn ziemlich schnell.
     
    Clare: Etta und ich haben Mama zu Bett gebracht. Ständig hat sie sich entschuldigt, so wie sie es immer macht, und wollte uns einreden, dass sie sich gut genug fühlt, um in die Messe zu gehen, aber schließlich hat sie sich doch hingelegt und ist fast augenblicklich eingeschlafen. Etta meint, sie würde zu Hause bleiben, falls Mama aufwacht, und ich sage ihr, sie soll nicht albern sein, ich würde bleiben, aber Etta ist stur, und so lasse ich sie, im Matthäus-Evangelium lesend, am Bett meiner Mutter zurück. Ich gehe durch den Flur und spähe in Henrys Zimmer, aber es ist dunkel. Als ich meine Tür öffne, liegt Henry rücklings auf dem Bett und liest A Wrinkle in Time. Ich sperre die Tür ab und lege mich zu ihm.
    »Was ist denn mit deiner Mom?«, fragt er, während ich mich vorsichtig neben ihm ausstrecke und versuche, nicht von meinem Kleid aufgespießt zu werden.
    »Sie ist manischdepressiv.«
    »Schon immer?«
    »Als ich klein war, ging es ihr besser. Sie hat ein Baby verloren, als ich sieben war, das war schlimm. Sie wollte sich umbringen. Ich hab sie gefunden.« Ich erinnere mich noch an das Blut überall, an die Badewanne mit dem blutigen Wasser, die voll gesogenen roten Handtücher. Ich schrie um Hilfe, aber niemand war da. Henry sagt nichts, und ich verrenke mir den Hals, er starrt an die Decke.
    »Clare«, sagt er schließlich.
    »Was?«
    »Wieso hast du mir das nicht erzählt? Ich meine, in deiner Familie ist einiges am Laufen, es wäre gut gewesen, vorher Bescheid zu wissen.«
    »Aber du wusstest...«, ich lasse den Satz in der Luft hängen. Er wusste es nicht. Woher auch? »Tut mir Leid. Es ist nur - ich hatte es dir erzählt, als es passiert ist, aber ich hab vergessen, dass jetzt vor damals ist, darum dachte ich, du wüsstest alles...«
    Henry überlegt und sagt dann: »Also, was meine Familie betrifft, sind alle Katzen aus dem Sack, alle Schränke und Leichen wurden dir zur Besichtigung präsentiert, und

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