Die Frau des Zeitreisenden
schon ein paar Drinks hinter sich. Alicia gibt mir unser heimliches Handzeichen: Nimm dich vor Mama in Acht, sie ist auf hundertachtzig. Mama sitzt ganz harmlos auf dem Sofa, ihre Haare sind zu einem Chignon aufgetürmt, sie trägt ihre Perlenkette und das pfirsichfarbene Samtkleid mit den Spitzenärmeln. Sie macht ein erfreutes Gesicht, weil Mark zu ihr geht und sich neben sie setzt, lacht sogar, als er einen kleinen Witz reißt, und ich frage mich kurz, ob Alicia sich irrt. Dann aber sehe ich, wie Daddy sie im Auge behält, und mir wird klar, dass sie vor unserem Eintreten vermutlich etwas Hässliches gesagt hat. Daddy steht am Getränkewagen, dreht sich erleichtert zu mir, schenkt mir eine Cola ein und gibt Mark ein Bier samt Glas. Dann fragt er Sharon und Henry, was sie trinken möchten. Sharon will ein Mineralwasser. Henry entscheidet sich nach kurzer Überlegung für Scotch mit Wasser. Mein Vater mixt umständlich die Drinks und verfolgt mit großen Augen, wie Henry seinen Scotch mühelos in einem Zug kippt.
»Noch einen?«
»Nein, vielen Dank.« Mittlerweile weiß ich, dass Henry sich am liebsten die Flasche und ein Glas schnappen und mit einem Buch im Bett verkriechen würde, und dass er einen zweiten nur ablehnt, weil dann bedenkenlos der dritte und vierte folgen würde. Sharon hält sich an Henry, und ich lasse die beiden allein, gehe durchs Zimmer und setze mich zu Tante Dulcie auf die Erkerbank.
»Oh, Kind, wie hübsch - das Kleid hab ich nicht mehr gesehen, seit Elizabeth es auf der Party der Lichts anhatte, damals im Planetarium...« Alicia gesellt sich zu uns; sie trägt einen marineblauen Rollkragenpulli mit einem kleinen Loch in der Naht zwischen Ärmel und Oberteil, dazu einen alten beschmutzten Kilt mit Wollstrümpfen, die an den Knöcheln Falten werfen wie bei einer alten Frau. Ich weiß, sie macht das nur, um Dad zu ärgern, aber trotzdem.
»Was ist denn mit Mama los?«, frage ich sie.
Alicia zuckt die Achseln. »Sie ist sauer wegen Sharon.«
»Was ist denn mit Sharon?«, erkundigt sich Dulcie, die uns von den Lippen abliest. »Sie scheint sehr nett zu sein. Netter als Mark, wenn ihr mich fragt.«
»Sie ist schwanger«, sage ich zu Dulcie. »Sie wollen heiraten. Mama hält Sharon für den größten Abschaum, weil sie die erste in ihrer Familie ist, die auf ein College geht.«
Dulcie sieht mich scharf an und begreift, dass ich weiß, was sie weiß. »Ausgerechnet Lucille sollte dem Mädchen ein bisschen Verständnis entgegenbringen.« Alicia will Dulcie fragen, was sie damit meint, als die Essensglocke läutet, und wir alle, dem pawlowschen Reflex folgend, in Richtung Esszimmer defilieren. Flüsternd frage ich Alicia: »Ist sie betrunken?«, und Alicia flüstert zurück: »Ich glaube, sie hat vor dem Essen schon in ihrem Zimmer ein paar gehoben.« Ich drücke Alicias Hand, und Henry bleibt ein wenig hinter uns. Im Esszimmer nehmen wir unsere Plätze ein: Dad und Mama an den Stirnseiten des Tisches, Dulcie, Sharon und Mark auf einer Seite, mit Mark neben Mama, und gegenüber Alicia, Henry und ich, mit Alicia neben Daddy. Überall im Raum brennen Kerzen, kleine Blumen schwimmen in Schalen aus Kristallglas, und Etta hat Grandmas besticktes Tischtuch von den Nonnen in der Provence ausgebreitet und unser Silber und Porzellan aufgedeckt. Kurzum, es ist Heiligabend, genau wie jeder Heiligabend, an den ich mich entsinnen kann, nur dass Henry an meiner Seite sitzt und verlegen den Kopf senkt, als mein Vater das Tischgebet spricht.
»Himmlischer Vater, wir danken dir an diesem Heiligen Abend für deine Gnade und dein Wohlwollen, für ein weiteres Jahr der Gesundheit und des Glücks, für den Trost der Familie und neue Freunde. Wir danken dir, dass du deinen Sohn in Gestalt eines unschuldigen Kindes geschickt hast, damit er uns den Weg weise und erlöse, und wir danken dir für das Kind, dass Mark und Sharon in unsere Familie bringen werden. Wir bitten um mehr Vollkommenheit in unserer Liebe und um mehr Geduld im Umgang miteinander. Amen.« Oje, denke ich. Jetzt hat er’s geschafft. Ich sehe zu Mama, sie schäumt vor Wut. Wenn man sie nicht kennt, würde man es nicht merken: Sie sitzt ganz still da und starrt auf ihren Teller. Die Küchentür öffnet sich, Etta bringt die Suppe und stellt vor jeden eine kleine Schale hin. Ich fange Marks Blick auf, und er neigt den Kopf leicht zu Mama, hebt dabei die Brauen, und ich nicke nur knapp. Er stellt ihr eine Frage über die diesjährige Apfelernte, und
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