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Die Frau des Zeitreisenden

Die Frau des Zeitreisenden

Titel: Die Frau des Zeitreisenden Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Audrey Niffenegger
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sie antwortet. Alicia und ich werden etwas lockerer. Sharon beobachtet mich, und ich zwinkere ihr zu. Es gibt Kastanien-Pastinaken-Suppe, was normalerweise schrecklich sein könnte, solange man nicht Nells Version probiert. »Mann«, sagt Henry, und alle lachen wir und essen unsere Suppe. Kaum hat Etta die Schalen abgeräumt, kommt Nell mit dem Truthahn herein, einem Riesenvieh, goldbraun und dampfend, und wir klatschen alle begeistert, wie wir es jedes Jahr tun. Nell strahlt und sagt: »Tja, nun«, wie sie es auch jedes Jahr tut. »Oh, Nell, der ist traumhaft«, sagt meine Mutter mit Tränen in den Augen. Nell sieht sie streng an, dann Dad, und sagt: »Vielen Dank, Miz Lucille.« Etta serviert uns Füllung, glasierte Karotten, Kartoffelpüree und Zitronenquark, dann geben wir unsere Teller an Daddy weiter, der sie mit Truthahn überhäuft. Ich beobachte, wie Henry den ersten Happen von Nells Truthahn isst: Überraschung, dann Glück. »Ich habe meine Zukunft gesehen«, verkündet er, und ich erstarre. »Ich werde dem Bibliothekswesen Adieu sagen und hierher ziehen, mich in eurer Küche niederlassen und Nell zu Füßen liegen. Oder ich werde sie gleich heiraten.«
    »Zu spät«, sagt Mark. »Nell ist schon verheiratet.«
    »Schade. Dann muss ich mich wohl mit ihren Füßen begnügen. Wieso wiegt ihr eigentlich nicht alle zwei Zentner?«
    »Ich arbeite gerade daran«, sagt mein Vater und klopft sich auf den Bauch.
    »Ich werde zwei Zentner wiegen, wenn ich alt bin und mein Cello nicht mehr durch die Gegend schleppen muss«, sagt Alicia zu Henry. »Dann zieh ich nach Paris und werde nur noch Schokolade essen und Zigarren rauchen und Heroin spritzen, dazu höre ich Jimi Hendrix und die Doors. Stimmt’s, Mama?«
    »Ich begleite dich«, entgegnet Mama würdevoll. »Allerdings würde ich lieber Johnny Mathis hören.«
    »Wenn du Heroin spritzt, wirst du nicht mehr viel Appetit haben«, klärt Henry Alicia auf, die ihn grüblerisch betrachtet. »Probier’s lieber mit Marihuana.« Daddy runzelt die Stirn. Mark wechselt das Thema: »Laut Radio soll es heute Nacht zwanzig Zentimeter schneien.«
    »Zwanzig!«, entfährt es uns im Chor.
    »I’m dreaming of a white Christmas...«, stimmt Sharon nicht sehr überzeugend an.
    »Hoffentlich schneit es nicht nur, wenn wir in der Kirche sind«, sagt Alicia mürrisch. »Nach der Messe bin ich immer so müde.« Wir plaudern weiter über Schneestürme, die wir erlebt haben. Dulcie erzählt, wie sie 1967 in dem großen Blizzard in Chicago stecken blieb. »Ich musste mein Auto am Lake Shore Drive stehen lassen und die ganze Strecke von der Adams Street bis zur Belmont Avenue zu Fuß gehen.«
    »In dem saß ich auch fest«, sagt Henry. »Ich wäre fast erfroren, und am Ende bin ich im Pfarrhaus der Vierten Presbyterianerkirche an der Michigan Avenue gelandet.«
    »Wie alt waren Sie da?«, fragt Daddy, und Henry zögert, bevor er antwortet: »Drei.« Er blickt zu mir, und ich begreife, dass er von einem Erlebnis auf einer seiner Zeitreisen spricht. »Ich war mit meinem Vater unterwegs«, fugt er hinzu. Für mich ist klar erkenntlich, dass er lügt, aber niemand scheint es zu bemerken. Etta kommt herein, räumt unser Geschirr ab und verteilt die Dessertteller. Nach einer leichten Verzögerung tritt Nell mit dem flambierten Plumpudding ein. »Puh!«, sagt Henry. Sie stellt den Pudding vor Mama ab, und einen Moment lang färben die Flammen ihre hellen Haare kupferrot wie meine und erlöschen dann. Daddy öffnet den Sekt (unter einem Geschirrtuch, damit der Korken keinem ein Auge ausschießt). Dann reichen wir ihm alle unsere Gläser, er schenkt ein, wir reichen sie zurück. Mama schneidet den Plumpudding in dünne Scheiben, und Etta legt jedem auf. Es gibt zwei zusätzliche Gläser, eins für Etta und eins für Nell, dann stehen wir alle auf, um unseren Toast auszubringen.
    Mein Vater beginnt: »Auf die Familie.«
    »Auf Nell und Etta, die fast zur Familie gehören und so hart arbeiten und uns ein Zuhause schaffen und die so vielseitig begabt sind«, sagt meine Mutter leise, außer Atem.
    »Auf Frieden und Gerechtigkeit«, sagt Dulcie.
    »Auf die Familie«, sagt Etta.
    »Auf Anfänge«, sagt Mark und prostet Sharon zu.
    »Auf das Schicksal«, entgegnet sie.
    Nun bin ich an der Reihe. Ich sehe Henry an. »Auf das Glück. Auf das Hier und Jetzt.«
    Henry erwidert ernst: »Auf Welt genug und Zeit.« Mein Herz macht einen Satz, und ich frage mich, woher er das weiß, doch dann fällt mir ein,

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