Die Frau, die ein Jahr im Bett blieb (German Edition)
nahm das Bild, trug es, mit der nackten Seite der Leinwand zu Eva, nach unten und stellte es in den Flur.
Eva hörte ihn in der Stille des Morgens wegfahren. Er hatte sein Schweizer Messer auf der Fensterbank liegen lassen. Sie nahm es in die Hand, es fühlte sich kalt an.
Sie behielt es in der Hand, bis es warm war.
Eva kniete vor dem Fenster und versuchte, im Spiegelbild ihre Jeanne-d’Arc-Frisur zu begutachten, als Jade sich rührte und aufwachte. Eva beobachtete ihr Gesicht und sah genau den Moment, als die Schlaftrunkenheit sich lichtete und die bittere Erkenntnis, dass ihr Kind verschwunden war, sie traf.
»Sie hätten mich nicht schlafen lassen dürfen!«, sagte sie, während sie zu ihren Schuhen krabbelte und sie anzog. Sie schaltete ihr Handy ein und sagte verärgert: »Amber könnte versucht haben, mich zu erreichen.« Sie kontrollierte ihr Telefon. »Nichts«, sagte sie. »Tja, das sind wohl gute Nachrichten, oder?«, sagte sie aufgekratzt. »Das heißt, man hat ihre Leiche nicht gefunden, oder?«
Eva sagte: »Ich bin sicher, dass sie am Leben ist.«
»Sie sind sicher?«
Jade grabschte nach diesem Bröckchen Hoffnung, als wäre Eva die höchste Hüterin allen Wissens. »Im Internet heißt es, Sie hätten besondere Kräfte. Manche sagen, Sie sind eine Hexe und beherrschen schwarze Magie.«
Eva lächelte: »Ich hab nicht mal eine Katze.«
»Ich glaube, Sie sind ein guter Mensch. Wenn wir uns in Ruhe zusammensetzen und uns konzentrieren, könnten Sie dann wohl herausfinden, wo sie ist? Können Sie sie sehen?«
Eva versuchte zurückzurudern. »Nein, ich besitze keine übersinnliche Wahrnehmung. Ich bin kein Kriminologe. Ich bin nicht qualifiziert, überhaupt eine Meinung zu haben, und ich weiß nicht, wo Amber ist. Es tut mir leid.«
»Warum haben Sie dann gesagt, Sie sind sicher, dass sie am Leben ist?«
Eva war ihrer selbst überdrüssig; was sie eigentlich hatte sagen wollen, war: »Die meisten Ausreißer werden lebend gefunden.«
»Nein, ich glaube, Sie haben recht«, sagte Ambers Mutter. »Ich wüsste, wenn sie tot wäre.«
Eva sagte: »Viele junge Mädchen reißen nach London aus.«
»Sie war schon mal da. Wir haben Les Misérables gesehen. Sie sagte, sie sei auf der Seite der Aristokraten. Sie wollte partout nicht zu Woolworth.« Sie schüttelte den Kopf. »Was soll ich als Nächstes tun?«
»Duschen, Haare waschen und Zähne putzen.«
Als Jade aus dem Bad kam, sah Eva, dass sie nun besser gerüstet war, dem Leid zu begegnen, das gedroht hatte sie zu verschlingen.
Eva fragte: »Wo wollen Sie jetzt hin?«
»Ich habe eine EC-Karte, ich habe Benzin. Ich werde nach London fahren und sie suchen.«
Eva gestand: »Ich bin mit sechzehn nach Paris gefahren. Mein Gott! Jeden Morgen bin ich woanders aufgewacht, aber wenigstens wusste ich, dass ich lebe.«
Keine der beiden Frauen war es gewohnt, Gefühle zu zeigen, doch sie hielten einander ein paar Augenblicke, bevor Eva Ambers Mutter gehen ließ.
Nachdem sie fort war, starrte Eva auf die gegenüberliegende weiße Wand, bis Amber und Jade im hintersten Eck ihres Bewusstseins verschwunden waren. An einem Ort, der für Eva so etwas wie die Rückseite des Mondes war.
50
So wie eine Reise mit dem ersten Schritt beginnt, beginnt sich eine Menge mit dem ersten Menschen zu versammeln. Sandy Lake war eine offensiv englische 41-Jährige, die meinte, die Leute würden sie für schrullig und unkonventionell halten, wenn sie auffällige Farben und eine exzentrische Mütze trug.
Sie war eine der Ersten gewesen, die von ihrem Platz auf dem Center-Court in Wimbledon »Na los, Tim!« gerufen hatte – einmal sogar nachdem der Schiedsrichter um Ruhe gebeten hatte. Der asiatische Schiedsrichter hatte sie zurechtgewiesen, was sie ziemlich albern fand.
Sie hatte auf Twitter von Eva gelesen. Viele Twitterer meinten, Eva sei eine weise Frau, die aus Protest im Bett blieb, weil die Welt so grauenvoll war, wegen Krieg und Hunger und kleinen Babys, die starben, und so (obwohl die Mütter zum Teil selbst schuld waren, weil sie zu viele Kinder hatten und unbedingt meilenweit von der nächsten Wasserstelle entfernt wohnen mussten). Auf SingletonsNet hatte sie außerdem gelesen, dass Eva mit den Toten sprechen und in die Zukunft sehen konnte.
Sandy verspürte den Wunsch, Eva nahe zu sein. Also war sie vorgestern von Dulwich zum Bürgersteig gegenüber von Evas Haus gereist, ausgerüstet mit Pop-up- Zelt, Schlafsack, Isomatte, Klappstuhl, winzigem Primus-Kocher und
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