Die Frau die nie fror
Augen.
Ich möchte begeistert sein, möchte mich wirklich begeistern lassen, aber meine Aufmerksamkeit schweift ab. Überall in Milosas Arbeitszimmer hängen Aufnahmen meiner Mutter. Isa in Paris, mit einem affektierten Hut und in einem zweireihigen Hosenanzug von Dior, in bleicher Hochnäsigkeit an der Theke eines Drugstores sitzend, neben einem grauen Wolfshund mit wasserklaren Glotzaugen. Isa läuft durch den Central Park auf die hochaufragende New Yorker Skyline zu, in einem kurzen Rüschenkleid von Bill Blass, die Beine lang, fast konturlos. Es gibt auch ungekünstelte, nicht gestellte Aufnahmen – Isa verschiedenen Alters in unterschiedlichen Stimmungen, und doch fesselt es einen immer wieder, wie sie ihren tragischen, spielerischen, provokativen Schein verbreitet.
Die Fotos sind zu vertraut, um sie bezaubernd zu finden. Aber ich taste weiter ihre Oberflächen ab, versuche um all die silbernen Rahmen herum und hindurch und dahinter zu sehen. Diese spezielle Form der Selbstquälerei habe ich schon Jahre nicht mehr betrieben. Die Neuigkeit, dass Milosa sterblich ist, muss wohl bei mir eine Regression ausgelöst haben. Denn mit einem Mal bin ich wieder ein Kind, mit großen Augen, vertrauensvoll suchend und sich gleichzeitig wundernd, warum es in all dieser monumentalen Herrlichkeit nicht einen einzigen Schnappschuss von mir gibt.
*
Ich treffe Maureen an ihrem Computer an. Über ihr ein Bord voller Hefter, auf dem Schreibtisch diverse Papierstapel. Lesebrille auf der Nase, Edelsteine blitzen, während ihre Finger nur so über die Tastatur fliegen und dabei eine Insektenmusik, bestehend aus sehr schnellen rhythmischen Klicks, erzeugen. Ihr Kleid ist cremefarben und pink, weiter Ausschnitt, schmale Streifen und ein lockerer Gürtel. Es sieht aus, als hätte es morgens angefangen für ein Dampfschiff aus dem Jahr 1912, dann einen Umweg genommen zu einer 1950er Gartenparty am Stadtrand und wäre schließlich 2013 in einem Online-Katalog gelandet.
»Was hat er?«, sage ich.
Sie hört zu tippen auf und stößt einen tiefen, besiegten Seufzer aus. Sie speichert ihr Dokument und wirbelt dann zu mir herum. »Eine Nierenkrankheit.«
»Welche?« Es spielt keine Rolle, aber ich will es trotzdem wissen.
»Glomerulonephritis, auch bekannt als Nierenentzündung. Sie ist medikamentös behandelt worden, aber das hat praktisch keine Wirkung bei ihm gezeigt, und vor kurzem hat sein Arzt zu ihm gesagt, er werde zur Dialyse müssen. Was er ablehnt.« Sie stößt ein hohles Lachen aus. »Natürlich.«
»Seit wann weißt du davon?«
»Ein paar Monate.«
»Warum hast du mir nichts gesagt?«
»Zuerst wollte er überhaupt nichts sagen. Er dachte, er würde wieder genesen. Stattdessen hat sich sein Zustand erheblich verschlechtert.«
»Er hat gesagt, er stirbt.«
»Das wird er, wenn er weiterhin die Dialyse ablehnt.«
»Warum lehnt er sie ab?«
»Du kennst doch deinen Vater. Alles oder nichts. Leben oder Tod. Eine Maschine, die sein Blut reinigt, bedeutet doch, dass er nicht mehr von sich aus leben kann. Außerdem hat er einen sehr pragmatischen Zugang gefunden. Er sagt, es sei die reinste Zeitverschwendung, eine Krankheit zu behandeln, die ihn am Ende doch umbringen wird.«
Sie deutet auf eine Batterie Medikamente auf einem silbernen Tablett, das auf einem Beistelltisch steht. »Er soll fünfmal am Tag Pillen nehmen. Aber ich habe den Verdacht, dass er sie wegwirft. Ich glaube, der einzige Grund, warum er sie nicht kategorisch ablehnt, ist, dass er Angst hat, ich würde sie sonst zermahlen und ihm unters Essen mischen.«
Ich nehme ein karamellfarbenes Plastikfläschchen in die Hand. Ein weißer Deckel mit Anweisungen: Öffnen – Drücken und drehen – Schließen. Der Name der Apotheke prangt darauf in Rot. Sein Name in kantigen schwarzen Lettern: Milosa Kasparov. Ein Patient. Ihn so gedruckt zu sehen wirkt seltsam. Der Name eines sterblichen Mannes.
Maureen tritt neben mich, zeigt dann nacheinander auf jedes Fläschchen. »Enalapril gegen hohen Blutdruck. Calcitrol, eine Form von Vitamin D. Phoslo, ein Phosphatbinder. Procrit gegen Blutarmut, und dann noch Lasix, ein Diuretikum.«
Eines bleibt noch. Ich nehme es in die Hand. »Halcion. Wozu ist das?«
»Schlaf.«
»Hat er Schlafstörungen?«
»Mitten in der Nacht fängt er an zu schimpfen. Er steht auf und wandert umher, redet ohne Unterlass über Russland. Ich höre, wie er zu seiner Mutter und seinem Vater spricht und zu anderen Leuten, die er damals dort
Weitere Kostenlose Bücher