Die Frau die nie fror
es auch verdrängt. Milosa und sterben? War das überhaupt möglich? Ich habe jede Legende geglaubt, die er je über sich erzählt hat, jede starke Pose, die er eingenommen hat. Ich habe ihn nie krank gesehen, nie ängstlich oder unsicher, bis vor kurzem nie auch nur leicht angeschlagen. Ich bin wütend, als hätte er mir die ganze Zeit etwas vorgemacht, hätte sich selbst zu einer überlebensgroßen Figur aufgeblasen. Dann frage ich mich, wie er wohl sterben wird. Nicht friedlich. Ich denke, er wird wie ein Irrer tobend sterben. Allein diese Vorstellung macht mir Angst. Als würde man sich einen riesigen Berg mit zerklüftetem Gipfel vorstellen, der donnernd ins Meer rutscht.
Mit einiger Mühe fange ich mich halbwegs und schaffe es, mich zu erkundigen, was er denn hat. Also, welche Krankheit.
Er lacht, als hätte ich einen echten Schenkelklopfer erzählt. Und lässt es offen.
Okay, ich sehe es ein. Er lebt, hat einen menschlichen Körper. Organe sind programmiert, Scheiße zu bauen. Ein oder zwei Zellen, die vergessen, wie sie ihren Job zu erledigen haben – mehr ist nicht nötig. Welchen Unterschied machen schon die Details, wenn das Ergebnis doch immer das gleiche ist? Ich will fragen, ob er auch wirklich sicher ist, dass er stirbt, aber er hätte das Wort nicht benutzt, wenn es nicht zutreffend und verdient gewesen wäre. Ich werde ihn nicht mit der Bitte langweilen, zu beschreiben, was die Ärzte tun und nicht tun können.
»Tut mir leid«, sage ich schließlich. Kein Schwall von Mitleid, keine tränenreiche Szene. Weil ich weiß, dass er es so haben will. Er nimmt meinen schlichten Kommentar mit etwas wie Schmerz entgegen, der seine Augen trübt. Aber es ist nicht Schmerz; es ist vielmehr Verletzlichkeit, Bedürftigkeit. Unsere Augen erkennen die Gefühle des anderen – ein erschreckender Moment für uns beide. Er dreht sich zum Fenster und sagt, er habe diesen Ausblick schon immer sehr gemocht.
»Ja, er ist wunderschön«, sage ich schnell.
Wir blicken auf einen kleinen Garten und eine mit Steinplatten ausgelegte Terrasse. Ein Spatz huscht zwischen den nassen Ästen eines Apfelbaums herum, wirbelt glitzernde Tropfen von kürzlich gefallenem Regen auf.
Früher hatte ich aus dem Fenster meines Zimmers genau dieselbe Aussicht und beneidete die Vögel um die Möglichkeit, einfach wegzufliegen. Ich bin mit Schönheit und Reichtum aufgewachsen, und ich wollte nur weg. Jetzt sitze ich hier, schwer wie ein Felsbrocken, und Milosa geht. Der Raum fühlt sich bereits leerer an.
»Ich mochte den zweiten Satz dieses Konzerts schon immer sehr«, sage ich.
»O ja. Das Thema aus dem Film Elvira Madigan . Er ist sehr berühmt. Aber der Satz, der da eben lief, der dritte, das ist der, der mir am liebsten ist. In diesem Satz entfesselt sich Mozart geradezu. Es ist, als hätte er sich selbst die Erlaubnis gegeben, sich für nichts mehr entschuldigen zu müssen, sich nach niemandem zu richten und keinen Regeln mehr zu gehorchen. Das Zeitmaß ist allegro vivace assai ,was so viel bedeutet wie spiel es, so schnell du nur kannst . Der Pianist muss ein echter Virtuose sein – lediglich echte Hasardeure, wirklich hochkarätige Interpreten besitzen den Mut, es anzugehen.«
Ich sage, ich würde es sehr gern noch einmal hören. Plötzlich möchte ich gehen, wo er geht, hören, was er hört. So nahe sein, wie es nur eben geht.
»Ich werde es von Anfang an laufen lassen«, sagt er mit Freude. Er fummelt an dem iPod herum; die Musik setzt ein; sofort unterbricht er die Wiedergabe, um etwas zu erklären. »Das Orchester eröffnet das erste Thema. Das Klavier beginnt mit einem einzelnen G über hohem C, gefolgt von einer Fermate beziehungsweise einem Ruhepunkt. Das erste musikalische Motiv – alles über dem hohen C gespielt – ist E, F, Fis, G … Ach, was rede ich? Das alles sagt dir ja doch nichts.«
»Moment. Wie viel davon kennst du denn?«
Er schließt die Augen. »E, F, Fis, G, A, G, aufgelöstes F, E, D, Nachschlag-E, D, C …«
»Du kennst die Noten ?«
»Bevor du auf die Welt kamst, habe ich Klavier gespielt«, sagt er ungeduldig.
»Das wusste ich nicht. Warum hast du nicht weitergemacht?«
»Ich war nicht gut.«
»Das glaubst du aber doch selbst nicht.«
»Natürlich tue ich das.«
»Du kannst aber nicht sooo –«
Er tut die Schmeichelei mit einer Handbewegung ab. »Nein. Hör zu. Ich war nicht gut . Und jetzt hörst du jemanden, der gut ist .« Er drückt auf Wiedergabe und schließt die
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