Die Frau die nie fror
Parfüms verarbeitet, die sie entwarf.«
Martin lächelt breit. »Ich erinnere mich an sie. Und an dich auch.« Er wartet. »Erinnerst du dich nicht an mich?«
Ich betrachte ihn und beginne eine ältere Ausgabe des Jungen zu erkennen, mit dem ich immer gespielt habe – der Junge mit dem Lachen in der Stimme und den glänzenden schwarzen Haaren.
»Du warst noch ein Kind. Ich war ein paar Jahre älter«, sagt er. »Mein Dad und ich sind zum Abendessen gekommen, und wir beide haben auf der Sonnenterrasse da draußen gespielt und sind auf die Bäume auf der anderen Seite des Meeresarms geklettert. Eure Küche war immer voller Blumen, und mein Dad hat von zu Hause pitsuk mitgebracht.«
»Ich erinnere mich an pitsuk .« Reminiszenzen an salzigen getrockneten Fisch und helle Sommernächte kehren zurück. »Jetzt erkenne ich dich auch wieder! Du bist schneller gerannt als ich, und das konnte ich gar nicht leiden. Ich hab dann immer mit den Füßen aufgestampft und mit Stöcken nach dir geworfen. Oder mit Steinen, mit Händen voll Dreck. Was mir gerade in die Finger kam.«
Er wirft den Kopf zurück und lacht. »Ich habe versucht, dir beizubringen, wie man sich an Seehunde anschleicht. Du warst darin echt eine Niete.«
»So schlecht nun auch wieder nicht.«
Wir lachen. »Lange nicht gesehen, Pirio.« Seine Augen funkeln fröhlich. Für eine echte Sandkastenfreundschaft sind zwanzig Jahre nicht mehr als ein erfrischendes Nickerchen. Er streicht mit einem Finger über seinen Wangenknochen. »Verletzt?«
»Ja.«
»Unfall?«
»Äh, nein.«
Er sieht sich im Wohnzimmer um, und sein Blick streift den Teil der Küche, den er von dort, wo er steht, einsehen kann. »Bist du allein hier?«
»Ja.«
»Ist alles in Ordnung? Fühlst du dich hier sicher?«
Ich nicke, gerührt von seiner Besorgnis.
»Labrador-Tee wird gegen die Prellungen helfen.«
»Schmeckt fürchterlich, wie ich mich erinnere.«
»Aber nicht, wenn meine Frau ihn zubereitet. Komm heute Abend zum Essen vorbei.«
Ich bin mit einem Mal ganz beschwingt bei der Aussicht auf ein Abendessen mit Freunden.
*
Martin Naggek wohnt am Nordrand von Hopedale in einem eingeschossigen gelben Haus mit einem roten Blechdach. Es ist ein bescheidenes Rechteck, das in gleichmäßig große Räume unterteilt ist. Vom Wohnzimmer aus hat man durch ein großes Fenster einen Blick auf die Bucht, die so nah ist, dass man die glatten schwarzen Felsen entlang des Ufers sehen kann. Dazwischen liegen vereinzelte Ansammlungen von goldenem und braunem Seetang, der mit dem Wandel der Gezeiten auftaucht und wieder verschwindet.
Martins Frau, Tiffany, begrüßt mich herzlich und macht Witze darüber, wie wenige Menschen sie kennenlernt. Ich merke, dass sie gern mehr über mein Leben wissen würde, sich aber noch zurückhält. Ein kleines Mädchen namens Matilda sitzt hoheitsvoll in ihren Armen. Mit einem Finger hebt die stolze Mutter behutsam die Oberlippe des Babys an, um mir zwei winzige Zähne zu zeigen. Matilda antwortet mit Sabber und einem vergnügten Glucksen. Eine fedrige Haarlocke ist auf ihrem Kopf mit einer rosa Schleife zusammengebunden.
Beim Essen, es gibt Pasta und schmale Streifen getrocknetes Rentierfleisch, erzählt Martin, er sei Robbenjäger geworden, genau wie sein Vater Roger. Seit die Europäische Union den Import von Seehundprodukten verboten hat, ist das Geschäft flau, obwohl Seehundprodukte von Inuit-Jägern eigentlich von den Bestimmungen des Gesetzes ausgenommen sein sollen. Er verdient sechzehn Dollar pro Fell, verglichen mit den einhundert Dollar, die er früher bekam, ist das wenig. Er spricht ohne jede Befangenheit über Geld. Niedrige Preise, sagt er, hätten bewirkt, dass die hiesige Fabrik zur Verarbeitung der Seehunde schließen musste.
Als Martins Gesicht sich verfinstert, nimmt Tiffany den Faden auf und erläutert, dass sie ihre Küche in einen Friseursalon umfunktioniert hat. Die Frauen sitzen an ihrem Tisch und warten, bis sie an der Reihe sind mit Waschen und Schneiden. Sie erzählen Geschichten auf Inuktitut, während sie Bannockbrot essen und Tee trinken. Tiffany sagt, sie genieße ihre Arbeit, und Matilda in ihrem Laufstall in der Ecke findet es toll, wenn Leben im Haus ist.
Zusammen, sagt Martin, kommen sie zurecht.
Nach dem Essen kocht Tiffany wie versprochen einen Labrador-Tee. Außerdem befeuchtet sie Blätter, um einen Wickel zu machen, den ich mir brav zunächst auf die eine Gesichtshälfte und dann auf die andere drücke, wobei ich
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