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Die Frau die nie fror

Die Frau die nie fror

Titel: Die Frau die nie fror Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Elisabeth Elo
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nicht so recht glaube, dass es helfen wird. Der Duft der rohen Blätter führt mich zurück in die kühlen subarktischen Tage meiner Kindheit. Und auf einmal schildere ich, wie meine Mutter in der Küche des Architekten gearbeitet hat, wie sie aus getrockneten Blütenblättern ein Parfüm kreierte, das später synthetisch hergestellt und unter dem Namen L’Amour du Nord verkauft wurde. Ich verspreche Tiffany, ihr eine Flasche zu schicken, sobald ich wieder zu Hause bin.
    Mir ist aufgefallen, dass Martin und Tiffany während des ­Essens mehrfach verstohlene Blicke gewechselt haben, und jetzt tun sie es wieder. Sie haben ein Geheimnis, das sie allerdings nicht besonders gut verbergen. Aus irgendeinem Grund er­mutigt, stößt Tiffany seinen Ellbogen an. »Na los. Gib ihr die Schachtel.«
    Martin senkt verlegen den Blick. »Tiffany, bitte.«
    »Es gibt vielleicht kein anderes Mal«, drängt sie.
    »Ich sagte doch, nein !«
    Tiffany lehnt sich betrübt zurück. Martin bleibt weiterhin stumm, bereitet sich anscheinend auf das vor, was sie als Nächstes sagen wird. Eine angespannte Minute verstreicht.
    Schließlich sagt Tiffany: »Denk an deinen Vater, Martin. Was er von dir erwarten würde.«
    Martin starrt weiter mit gerötetem Gesicht auf seinen Teller, den Unterkiefer angespannt.
    »Er würde wollen, dass du ihr die Schachtel gibst.«
    »Sie ist aber nicht für sie. Sie ist für ihre Mutter.«
    »Ihre Mutter ist schon sehr lange nicht mehr hier gewesen. Pirio kann ihr die Schachtel geben. Dein Vater wollte es so, Martin. Er hat es ausdrücklich gesagt.«
    Ein dumpfes Ohrensausen bewirkt, dass ich mich ausgeschlossen und allein fühle, weit weg von diesem liebevollen Ehestreit. Ich wünsche fast, ich könnte mich vom Tisch fortstehlen, bevor die Unterhaltung weitergeht, denn ich habe bereits einige Teile des widerspenstigen alten Puzzles zusammengesetzt. Martin Naggek nach all dieser Zeit wiederzusehen hat in mir eine Fülle von Erinnerungen, Gefühlen und Ahnungen geweckt, die schon die letzten paar Stunden in mir gearbeitet und rumort haben.
    Roger Naggek war der Mann, der mit uns gelegentlich herumfuhr, mit uns durch Wälder und Felder voller Wildblumen wanderte und meiner Mutter zu finden half, wonach sie suchte. Er kam häufig zum Abendessen zu uns, entweder allein oder mit seinem Sohn. Ein kräftiger Mann mit zerzaustem schwarzen Haar, einer vom Wetter gegerbten Haut, einem flachen Gesicht und einer langen, geraden Nase – in meiner Erinnerung strotzte er nur so vor Energie. Alles an ihm schien sich in einem natürlichen, unbändigen Fluss zu befinden. Seine Hände waren zuverlässig und schnell. Seine Augen blitzten intelligent, und über seine Lippen perlte das Lachen. Er schnupperte an den Essenzen und Ölen meiner Mutter mit einem Lächeln, bei dem man seinen angeschlagenen Zahn sah.
    Ich habe ihn gehasst, weil er mir meine Mutter für lange Abende wegnahm, und das in dem einen Monat im Jahr, an dem sie doch eigentlich nur für mich da sein sollte; und weil er mit mir Ball spielte, während das Essen auf dem Herd stand, und es manchmal schaffte, mich zum Lachen zu bringen; und weil er sich mit mir verrückte Geschichten voller Zweifel und Wunderlichem ausdachte, genau solche, wie ich sie mir heute mit Noah ausdenke. Ich hasste ihn, weil er nach all diesem Spaß, nach all dem Vertrauen und der Zuneigung, die wir ihm schenkten, einfach aus der Haustür in die dunkle Nacht gegangen ist und uns allein gelassen hat.
    Was für mich schon okay war. Mit meiner Mutter allein zu sein war ja eigentlich genau das, was ich wollte, aber wenn Roger gegangen war, fühlte sich alles irgendwie nicht mehr richtig an. Eine Zeit war sie dann gedankenverloren, distanziert und nur gespielt fröhlich, wenn sie sich daran erinnerte, dass ich ja auch noch da war. Ich konnte sehen, dass ein ganz besonderes Licht in ihr schwächer geworden war, ein Licht, das nur er allein kon­trollierte. Ich hasste ihn dafür, dass er es zum Glühen brachte und sich anschließend nicht richtig um das Feuer kümmerte. Ich hasste die Fröhlichkeit, die er ihr brachte, und dass sie sie wieder zurück in ihr Herz stopfen musste, wenn er fort war.
    Das war Roger Naggek. Der Liebhaber meiner Mutter.
    »Schon in Ordnung. Ich glaube, ich weiß Bescheid«, sage ich. Ich werde nicht weinen – werde ich nicht.
    Eine Spur Traurigkeit taucht in Martins Augen auf. »Mein Vater ist vor einem Jahr gestorben.«
    »Das tut mir leid.«
    »Er hatte Krebs. Ein paar

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