Die Frau die nie fror
noch … viele Jahre hier.«
Das ist nicht der Milosa, den ich kenne. So spricht er nicht – in Wünschen und Hoffnungen. Er spricht in Entscheidungen und Handlungen, die keinen Raum für Zweifel lassen. Mein Magen krampft sich zusammen. »Was meinst du mit hoffentlich ?«
Aber er hat sich längst zu seinem Computer umgedreht und tut, als höre er nichts.
Benommen verlasse ich das Büro. Auf den Fluren von Inessa Mark herrscht eine gedämpfte Ruhe wie in einer Kathedrale. Die Schnüffelparty ist vorbei, und die Mitarbeiter sind in ihre Büros oder Waben zurückgekehrt. Auf dem Weg zum Fahrstuhl werfe ich einen Blick in den Konferenzraum. Jean-Luc ist damit beschäftigt, seine Karten und Kaffeebohnen einzupacken. Maureen und John Rodgers stehen dicht beieinander am Fenster und sind mit gesenkten Köpfen in ein Gespräch vertieft. Maureen sieht beiläufig auf, als ich vorbeigehe. Als unsere Blicke sich treffen, füllen sich ihre Augen mit Sorge.
Kapitel 13
I ch habe nicht die geringste Ahnung, wo John Oster sich an einem Donnerstagmorgen aufhalten könnte. Vielleicht ist er mitten auf dem Atlantik und holt Netze voller zappelnder, silberner Makrelen ein, vielleicht liegt er aber auch noch im Bett. Ich rufe ihn auf seiner Mobilnummer an. Wenn mir überhaupt jemand etwas über die Fahrten der Sea Wolf erzählen kann, dann er.
Es klingelt zum zweiten Mal. Eine beunruhigende Erinnerung steigt in mir auf. Milosa sagt, ich sei naiv. Aber das sagt der alte Russe immer. Lässt keine Gelegenheit aus, die alte Ich-habe-den-Durchblick-Nummer abzuziehen. Aber was weiß er schon?
Jetzt klingelt es bereits zum vierten Mal. Kleine matte Pfeiftöne. Als sei das Telefon anämisch. Softe Amerikanerin , flüstert Milosa mir ins Ohr. Ich spüre ein Ziehen im Bauch. Was weiß ich denn schon über den John Oster von heute? Johnny, der um vier Uhr früh aufsteht und stundenlang allein und gebeugt über seinen Vogelhäusern sitzt. Johnny, der mir etwas von Fahrerflucht erzählt. Der Johnny von früher hätte sich niemals mit dieser Antwort zufriedengegeben.
Fakten: Als Mitarbeiter von Ocean Catch ist Johnny vermutlich beteiligt an den Vorgängen dort. Wenn ich ihm Fragen zu der Sea Wolf stelle, wird er sich wundern, woher ich meine spärlichen Informationen habe. Natürlich würde ich meine Quelle nie preisgeben, aber er würde keine Ruhe geben, bis er es herausgefunden hat. Ich würde Mrs Smith in Gefahr bringen.
Ich beende abrupt den Anruf und bin froh, dass niemand rangegangen ist.
*
Über die gesamte Länge des Boston Fish Piers erstrecken sich links und rechts zwei Backsteinbauten aus dem neunzehnten Jahrhundert. Auf die Straße führen auf beiden Seiten Laderampen aus Beton, über denen jeweils das Firmenschild eines Fischgroßhändlers hängt: Sonny’s, Beau’s, North Sea, Atlantic. Tätowierte Männer glitzern vor Schweiß, Plastikbehälter voller silberner Fische werden gezogen und hochgewuchtet, der Straßenbelag ist glitschig von Blut und Innereien. Ein paar Männer starren mich an, eine gutgekleidete Frau, die mit einem Fernglas um den Hals ihre schmale Straße hinunterschlendert.
Beim Googeln der Sea Wolf fand ich eine Rockgruppe, ein Buch von Jack London und eine Abenteuer-Kreuzfahrtlinie – außerdem verschiedene Kajak-Typen, Luxusyachten, aufblasbare Boote und U-Boote der Kriegsmarine. Kein Fischereischiff mit Heimathafen Boston. Ich habe mehrere Suchläufe durchgeführt. Es erscheint einem fast nicht möglich, dass es noch Dinge auf dieser Welt gibt, die nicht auf Anhieb bei Google hochpoppen. Also bin ich hierhergekommen, weil ich mir überlegt habe, wenn ich lange genug im Hafen herumlaufe, werde ich früher oder später über sie stolpern. Kein besonders toller Plan, aber etwas Besseres ist mir nicht eingefallen.
Ich erreiche das Ende des Piers. Sechs oder sieben Fangschiffe wiegen sich träge auf den Wellen, ihre Kunststoff-Fender quietschen an den Holzpfeilern. Sie sehen schmuddelig aus, zerbeult. Ihre stählernen Seiten grün, schwarz, rot. Der Bug sehr hochgezogen, beinahe keck, der Mittelteil flach und offen, am Heck schließlich Rollen mit orangefarbenen Netzen auf riesigen Eisenspulen. Ich studiere die Namen auf den Heckbalken. Audrey Marie. Capt’n Jack. Lucy Lou. Meist Frauen oder legendäre Männer. Keine Wölfe.
Auf dem benachbarten Pier ist der Bank of America Pavilion fast verwaist. Zwei Pärchen und ein Mann sitzen an Tischen im Freien. Das blaue Sonnensegel über dem Außenbereich
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