Die Frau, die niemand kannte: Thriller (German Edition)
Uhr auf dem Platz im Bel-Air zu sein. Dann ein Mittagessen. Alles mit Dexter.
Es war Julias Idee gewesen. »Was hältst du davon, wenn die beiden tagsüber spielen? Dann haben wir sie an den Abenden für uns.« Kate hatte den Vorschlag sofort Dexter unterbreitet. In Washington hatte Dexter immer nur abends trainiert, doch nun arbeitete er meist bis nach Einbruch der Dunkelheit. Und wenn er nicht arbeiten musste, wollte Kate, dass er zu Hause bei den Jungs war. Und bei ihr.
So kam es, dass Kate ganze zwei Stunden zur Verfügung standen, in denen Bill nicht im Büro sein würde. Sie wartete weitere fünf Minuten, um sicher zu sein, dass er nicht zurückkam, weil er seine Wasserflasche, die Dose mit den Tennisbällen, sein Handy oder sonst irgendwas vergessen hatte. Und dann noch einmal fünf Minuten, nur um auch ganz sicher zu sein.
Sie klappte den Sonnenschutz herunter und betrachtete sich im Spiegel.
Es war ein bizarrer Moment – gleich würde sie die Grenze überschreiten. Sie würde einem Impuls nachgeben, der sich als völlig aberwitzig entpuppen könnte, und das letzte Fünkchen Vernunft in den Wind schreiben, das sie noch hatte. Doch, ich werde es tun, beschloss sie.
Kate zog die Krempe ihres neuen Gummiregenhuts so tief wie möglich herunter. Die Mütze, die sie sonst trug, war leuchtend bunt. Den Hut hatte sie erst gestern in irgendeinem Billigkaufhaus in Gare gekauft. Sie würde ihn später wegwerfen.
Sie nahm den Umschlag vom Beifahrersitz und schrieb die Straße und die Hausnummer von Bills Büro darauf – darin lag das Werbeblatt eines Fahrradgeschäfts, das zwanzig Prozent Rabatt auf sämtliche Fahrräder bot. Sie hatte den Flyer gestern im Fahrradgeschäft mitgenommen, als sie sich ihren Plan zurechtgelegt hatte.
Sie stieg aus, zog ihre Lederhandschuhe an und überquerte die Straße.
Es gab fünf Türklingeln. Auf der ersten stand ein deutscher oder luxemburgischer Name, auf der zweiten ein französischer, den sie ohne Weiteres aussprechen konnte – Dupuis . Underwood stand auf der dritten Klingel, auf der vierten WJM, S. A. Die fünfte Klingel war unbeschriftet.
Sie schrieb Underwood auf den Umschlag.
Dann drückte sie Bills Klingel. Sollte wider Erwarten jemand antworten, würde sie einfach behaupten, sie wolle zu Underwood. Der einzige andere Mensch, der bisher das Haus betreten oder verlassen hatte, war eine alte Frau gewesen, die um elf Uhr mit einer zusammengefalteten Einkaufstasche das Haus verlassen hatte und exakt eine halbe Stunde später wieder zurückgekehrt war, mit derselben Tasche, nur dass sie nun sehr schwer war. Kate hatte sie die steile Straße erklimmen sehen, ein scheinbar endloser, qualvoller Marsch. Ihre Lippen hatten sich ununterbrochen bewegt – das typische Selbstgespräch einer französischen Muttersprachlerin, deren Gesichtsmuskulatur dank der zahlreichen nasalen Vokale, die sich lediglich mit kräftigen Lippen korrekt aussprechen lassen, stets hübsch straff bleibt. Die Frau musste Mme Dupuis gewesen sein.
Kate läutete ein zweites Mal. Es schien an der Tür keine Überwachungskameras zu geben, aber heutzutage konnten diese Dinger überall versteckt sein. Sie achtete darauf, nicht unter ihrem Regenhut hervorzusehen, und läutete bei Dupuis.
»Booooon-jourrr?« Ja, das war die Stimme der alten Frau.
»Bonjour, Madame«, sagte Kate. »J ’ ai une lettre pour Underwood, mais il ne répond pas. La lettre, elle est très importante. «
»Ouuuuiiiii, Mademoiselle.«
Die alte Frau drückte den Türöffner, worauf Kate die mit einem Fenster versehene Tür aufstieß und hinter sich ins Schloss fallen ließ.
Kate ging die Treppe hinauf und sah Madame Dupuis vor ihrer Tür stehen.
»Merci, Madame.«
»De rien, Mademoiselle. Au deuxième étaggggge.«
Kate ging in den zweiten Stock hinauf, schob den Umschlag unter der Underwood-Tür hindurch und ging wieder hinunter. Sie öffnete die Haustür und ließ sie, jedoch von innen, ins Schloss fallen. Sie blieb eine Minute reglos stehen, dann schlich sie leise die Treppe wieder hinauf.
An der Biegung zur Treppe in den zweiten Stock hörte sie die Stimmen eines Mannes und einer Frau. Verdammt. Kate fuhr herum. Weit und breit keine Möglichkeit, sich zu verstecken. Sie könnte in den Keller laufen, aber was, wenn sie in die Garage gingen? Sie wollte sich unter keinen Umständen dabei erwischen lassen, wie sie sich versteckte.
Also würde sie sich wohl oder übel an ihnen vorbeimogeln müssen. Sie ging weiter die
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