Die Frau, die niemand kannte: Thriller (German Edition)
Shoppingbeute in stabile Tüten und Kartons mit unübersehbaren Logos darauf.
Kate schlenderte in die opulente Lobby eines Hotels und suchte ein öffentliches Telefon. Nachdem sie es mit Münzen gefüttert hatte, wählte sie die Nummer, die sie sich notiert hatte. Die Vorwahl lautete 352, was darauf schließen ließ, dass es sich um eine luxemburgische Nummer handelte. Das Blatt Papier, das sie in Bills Büro hatte mitgehen lassen, war zwar leer gewesen, aber es trug den Abdruck dessen, was auf dem Blatt darüber notiert worden war.
»Hallo«, meldete sich eine Frauenstimme mit amerikanischem Akzent, »hier ist Jane.« Mittlerer Westen. Die Stimme kam ihr vage bekannt vor, doch sie konnte sie keinem Gesicht zuordnen.
Kate wollte nicht riskieren, dass die Frau sie an der Stimme erkannte.
»Hallo?«
Kate legte auf. Okay. Bill telefonierte also mit einer Amerikanerin in Luxemburg namens Jane. Kates Instinkt sagte ihr, dass es sich um eine sexuelle Beziehung handelte; ein Gefühl, das dadurch verstärkt wurde, dass sie ganz allein in diesem schicken, sexy Hotel war, jederzeit in den Aufzug steigen und eine Tür öffnen könnte …
Hinter der sich natürlich Bill befinden würde. Die Tatsache, dass er offensichtlich gefährlich war, machte das Ganze umso aufregender. Bill war ein Verbrecher, ein Cop oder vielleicht beides, wie so viele, denen sie im Lauf ihrer Karriere begegnet war. Er war attraktiv und sexy und charmant und mutig, und unter dem Bett, in dem er mit Frauen schlief, die nicht seine Ehefrau waren – vielleicht Frauen wie Kate –, bewahrte er eine Waffe auf.
Sie verließ das Hotel, überquerte die Straße und stieg in ein Taxi. »Alte Pinakothek. Danke«, sagte sie auf Deutsch, während sie sich in sämtliche Richtungen umsah und zufrieden feststellte, dass ihr niemand gefolgt war. Trotzdem bat sie den Taxifahrer, sie an der Ludwigstraße aussteigen zu lassen.
»Aber bis zum Museum ist es noch ein halber Kilometer«, wandte der Taxifahrer ein.
»Das ist gut«, sagte sie und reichte ihm zehn Euro. »Ich möchte ein bisschen zu Fuß gehen.«
Vor ihr befand sich die U-Bahn-Station Universität mit all den Bars und Läden und Restaurants, doch die Gehsteige waren menschenleer. Sie marschierte an den hohen Fassaden vorbei, während ihr der eisige Wind ins Gesicht schlug und ihre Ohren und ihre Nase vor Kälte taub werden ließ.
Kate war angespannt, aber beherrscht. Auch jetzt fühlte sie sich wunderbar, genauso wie auf dem Fenstersims. Ihr Puls beschleunigte sich, als sie entschlossen durch die fremden Straßen ging, aufmerksam und mit geschärften Sinnen. Man hatte sie abgeschrieben, als sie den Bereich Operationen verlassen und als Analystin in die Abteilung für Geheiminformationen gewechselt hatte, wo sie gewissermaßen aus der Schusslinie war. In Wahrheit hatte sie sich selbst abgeschrieben und ihren Alltag fortan auf einem bequemen Stuhl hinter einem bequemen Schreibtisch verbracht.
Mit ihren Sinnen erwachte auch ihre Libido zum Leben.
So verrückt und unfair es sein mochte, sie gab Dexter die Schuld daran, dass sie sich so zu Bill hingezogen fühlte. Würde er mehr Zeit mit ihr verbringen und sich ihr gegenüber aufmerksamer zeigen – indem er sich häufiger bei ihr bedankte, sie ab und zu anrief, häufiger oder phantasievoller oder leidenschaftlicher mit ihr vögeln oder nur ein einziges Mal Anstalten machen würde, die Wäsche zusammenzulegen –, ginge sie jetzt vielleicht nicht diese Straße entlang und malte sich aus, wie sie mit diesem Mann in dem Bett mit der Waffe unter dem Lattenrost lag.
All das war kompletter Blödsinn. Das war ihr klar. Sie übertrug lediglich ihre eigenen Schuldgefühle auf einen Unschuldigen, um auf jemand anderen wütend sein zu können. Reiß dich zusammen, ermahnte sie sich.
Sie überquerte den zugigen Platz vor dem Museum. Weit und breit war niemand zu sehen. Neben dem Gebäude befand sich eine von einem geometrisch anmutenden Muster aus schmalen Kieswegen durchzogene Rasenfläche mit einigen Metallskulpturen hier und da.
Kate kaufte sich eine Eintrittskarte und ging mit Mantel und Handtasche in der Hand die breite Marmortreppe hoch. Sie begann bei den niederländischen und deutschen Meistern und schlenderte mit mäßigem Interesse herum, bis sie zu den hohen Räumen mit den gewaltigen Gemälden von Raffael, Botticelli und da Vinci gelangte. Das obligatorische japanische Pärchen stand mit um den Hals baumelnden Kameras herum und lauschte
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