Die Frau, die vom Himmel fiel: Roman (German Edition)
Zahlen einen Sinn? Das Problem bei diesem Krieg ist, dass es keine Unschuldigen gibt, Clément. Du kannst nicht einfach am Rand stehen und sagen, du wärst nicht schuld. Jeder ist schuld. Genau in diesem Augenblick werden für dich Menschen getötet. Du kannst nicht einfach sagen, du willst nicht, dass das geschieht, weil es nämlich geschieht. Jetzt. Und wie es aussieht, würde eine einzige von euren Atombomben auf Berlin den Krieg schlagartig beenden.«
»Würde es dadurch richtig?«
»Wenn alles vorüber wäre, könnten wir gern eine hitzige Diskussion über die Moral des Ganzen führen. Aber jetzt musst du mich bitte entschuldigen, ich geh nämlich ins Bett.«
Sie legt sich in ihr kaltes Bett und wartet reglos, bis ihr Körper Laken und Plumeau erwärmt hat, denkt an Marian Sutro, eine Person, die sie mal war und vielleicht wieder sein wird; ein Mädchen, erfüllt von kindlicher Begeisterung und Hingebungsgabe. Wo ist Marian jetzt? Sie denkt an Clément am See in Annecy und an Benoît in London und Schottland und hier in Frankreich. Sie erinnert sich an das Kino, mit Benoîts Arm um ihre Schultern, und an die Pathé-Wochenschau – Hamburg im Bombenhagel – auf der Leinwand. Durch die Nacht dröhnende Bomber und in der Finsternis unter ihnen eine ganze Stadt aus Glutnestern. Im Filterraum hatte sie die losfliegenden Bomber auf der Karte markiert, die Flüsterstimme der Frau am Peilgerät im Ohr: »Neuer Kurs: Victor Oboe, fünf-eins, acht-drei, zehn plus bei fünf, FFE «, während sie über den Tisch griff und dort, wo East Anglia sich bauchig in die Nordsee wölbte, die Flugbewegungen markierte. Aus einer einzelnen Maschine wurden Dutzende, aus Dutzenden Hunderte, Geschwader, die hinauf in einen dunkelnden Himmel stiegen und auf ihrem Weg zur holländischen Küste zu einem gewaltigen Strom verschmolzen, fünftausend Männer, die in die Nacht flogen. Die Vier-Uhr-Schicht erfasste sie auf ihrem Weg hinaus, und die Mitternachtsschicht würde versuchen, sie zu erfassen, wenn sie über die Nordsee zurückgeschlichen kamen, übel zugerichtet, zusammengeschossen, leer, ohne Bomben, ohne Treibstoff und endlich ohne die Angst, die sie während der Stunden des Angriffs erfüllt haben musste. Wie viele waren tot? Und am Boden, wie viele?
Fünfundfünfzigtausend allein in Hamburg.
Oder waren es achtundfünfzig? Ein kleiner Fehler des Gedächtnisses, und schon sind es dreitausend Menschen weniger.
Der Bär lacht sie aus ihren Träumen heraus an. Es bedeutet das Ende des Krieges. Vielleicht das Ende der Welt.
VIII
Das Café liegt nur einen Katzensprung vom Fluss entfernt, in der Rue Saint-André des Arts. Als sie die Tür öffnet, läutet irgendwo eine Glocke, und der Mann, der hinter der Bar steht und Gläser abtrocknet, blickt auf. Das Lokal ist nichtssagend eingerichtet: braune Holzvertäfelung, ein paar Fotos an den Wänden, Motive eines Paris von vor dem Krieg; ein Werbeplakat für Byrrh ; eine Kreidetafel, auf der außer dem Wort Menu nichts steht. Sie setzt sich an einen Ecktisch und bestellt einen Kaffee. Als der Barmann ihn bringt, sagt sie: »Ich möchte mit der Patronne sprechen. Ist sie da?«
Er mustert sie nachdenklich. »Kann sein.«
»Sagen Sie ihr, meine Tante in Marseille schickt mich.«
Der Mann schnaubt, als wären Tanten jeglicher Art doch ziemlich unglaubhaft, vor allem Tanten aus Marseille. Hinter der Bar greift er zu einem Telefon und spricht kurz mit jemandem. »Sie müssen warten«, sagt er, als er den Hörer wieder auflegt.
Sie nippt an ihrem Kaffee. Der Barmann liest eine Zeitung, die jüngste Ausgabe von La Gerbe mit der Schlagzeile Le Maréchal Parle à la Nation . Draußen gehen ein paar Leute vorbei; der eine oder andere späht herein. Sie blickt auf die Straße und denkt nach. Sie denkt über Yvette nach und über Clément. Im Südwesten hatte sie nur wenig Zeit zum Nachdenken, aber hier in der Stadt ist es anders: Du musst warten, und Warten löst Gedanken und Sorgen und Ängste aus. In Friedenszeiten war es auf dem Lande still, und in der Stadt ging es hektisch zu. In Kriegszeiten ist es umgekehrt.
»Wie lange?«
»Wie lange was?«
»Muss ich warten?«
Der Barmann zuckt die Achseln. »Kommt ganz drauf an.«
Eine halbe Stunde später ist die Patronne da. Sie ist eine Frau mittleren Alters mit den Spuren einstiger Schönheit im Gesicht und einem Anflug von Besorgnis in der Miene, als ob sie irgendetwas verlegt hätte, aber nicht mehr genau wüsste, was. »Meine Tante Régine
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