Die Frau, die vom Himmel fiel: Roman (German Edition)
aber vergeblich nach einer entsprechenden Reaktion im Gesicht der Frau. »Die Adresse kam aus London. Sie haben WORDSMITH kontaktiert, weil sie wussten, dass ich Marcelle würde erkennen können. Sie hat mir erzählt, dass sie ihre neue Adresse als Letztes durchgegeben hatte – sie war erst ganz frisch dort eingezogen und hatte noch keinem davon erzählt. Dann hat sie den Funkkontakt abgebrochen. Ihr Funkgerät habe ich jetzt.«
»Nach meiner Information wurde sie zusammen mit den anderen verhaftet.«
»Offenbar nicht.«
»Können Sie ihr trauen?«
»Natürlich kann ich ihr trauen. Sie ist mehr als bloß eine Kollegin, sie ist eine Freundin.«
Claire schweigt eine Weile, als würde sie über den Wert von Freundschaft nachdenken. »Was ist mit dem anderen Passagier?«
»Der hat nichts mit CINÉASTE zu tun. Nichts mit irgendeinem Ring. London will ihn rausholen.«
»Ist er ungefährlich?«
»Ich kann mich für ihn verbürgen, aber ich kann Ihnen nicht sagen, wer er ist.«
Claire zuckt die Achseln. »Bestimmt irgend so ein Scheißpolitiker.« Dann kommt ihr eine Idee. »Wenn Sie Marcelles Funkgerät haben, können Sie eine Nachricht aus London anfordern. Tun Sie das. Sagen Sie ihnen, sie sollen eine Nachricht über die BBC senden.«
»Was für eine Nachricht? Warum?«
Der Barmann steckt den Kopf zur Tür herein. »Ich muss in zehn Minuten los«, sagt er. »Dann musst du übernehmen.«
»Paul geht in zehn Minuten«, sagt die Frau zu Alice. »Dann werd ich wissen, ob ich Ihnen vertrauen kann.« Zum ersten Mal lächelt sie.
Erneut fährt sie mit der Métro quer durch die Stadt, und diesmal hinterlässt sie eine Nachricht bei dem Dickwanst namens Boger in dem Café. Sie trifft sich mit Yvette am Eingang vom Friedhof. Es ist sicherer so, im Freien, wo niemand sie belauschen kann. Sie gehen aufs Geratewohl durch die Stadt der Toten, vorbei an Grüften und Denkmälern und Grabsteinen. Auf manchen liegen traurige Sträuße halb verwelkter Blumen. Den einen oder anderen Namen erkennt sie, hier ein Dichter, dort ein Künstler. Andere haben eine Reihe von Buchstaben hinter ihrem Namen, als müsste man sie daran erkennen, auch wenn sie einem nichts sagen.
Alice sagt: »Ich hab mit Leuten gesprochen.«
Ein banger Ausdruck huscht über Yvettes Gesicht. »Was für Leute?«
»Leute, die für die Organisation arbeiten.«
»Wer sind die?«
»Das spielt keine Rolle. Aber sie sagen, alle Mitglieder von CINÉASTE wurden verhaftet. Du eingeschlossen.«
»Aber das stimmt nicht, siehst du doch. Ich bin schließlich hier.« Ihre Stimme klingt barsch, gereizt. »Was willst du damit sagen? Verdächtigst du mich?« Ihre Stimmlage erhöht sich. Aus Wut oder aus Panik? Die beiden Emotionen nähren sich gegenseitig in einer makabren Symbiose. »Es ist niemand da, Marian. Das siehst du doch. Ich bin allein. Himmelherrgott, glaubst du mir nicht?«
»Jetzt beruhig dich wieder. Ich wollte damit bloß sagen, dass die Leute misstrauisch sind.«
»Aber wer sind die? Wer zum Teufel weiß von mir? Was hast du denen erzählt?«
Einen Moment lang droht das Gespräch zu kippen. Es fehlt nicht viel, und sie werden sich gegenseitig anschreien, unausgegorene Anschuldigungen an den Kopf werfen, mitten zwischen den Denkmälern und Mausoleen. »Ist ja gut, Yvette«, sagt Alice beschwichtigend. »Ich glaube dir. Aber du weißt, wie das ist. Du weißt, wie verängstigt alle sind. Vor allem jetzt, vor allem nach dem, was mit PROSPER passiert ist.«
Yvette beruhigt sich wieder. PROSPER und das Schicksal von PROSPER lösen eine plötzliche Flut von Angst aus, und die Angst ist stärker als die Wut. »Weißt du, was Emile mir erzählt hat? Bevor sie alle verhaftet wurden, weißt du, was er mir da erzählt hat?«
»Emile war ein bescheuerter Besserwisser.«
»Aber weißt du, was er mir erzählt hat? Er hat mir erzählt, es gäbe bei PROSPER einen Verräter.«
»Wenn er so clever war, das zu wissen, wieso war er dann nicht auch so clever, sich nicht schnappen zu lassen?«
Yvette lacht leise auf, ein kleinlautes Lachen. »Weißt du was?«
»Was denn?«
»Emile und ich …« Sie versucht ein Lächeln, aber es gelingt ihr nicht ganz. »Wir haben miteinander geschlafen.«
»Miteinander geschlafen? «
Yvette kichert. Ein Anflug ihres alten Selbst. »Hört sich das furchtbar an?«
Alice lächelt. »Meine Wahl wäre er nicht.«
»Aber er war ein Trost. Als Pianistin fristest du ein einsames Dasein …«
Sie kommen zu dem Grab von Balzac, bloß der
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