Die Frau, die vom Himmel fiel: Roman (German Edition)
den Weg zu einer Adresse in der Nähe, einer Wohnung, die sie schon einmal als Unterschlupf benutzt hat. Die Besitzer sind ein Eisenbahner und seine Frau, die sie überschwänglich begrüßen und ganz versessen darauf sind, irgendetwas zu tun, irgendeinen Beitrag zu leisten. Die Wohnung war für ihren Sohn gedacht, der heiraten wollte, aber dann zur Zwangsarbeit nach Deutschland geschickt wurde. Jetzt steht sie leer und wartet auf seine Rückkehr. »César hat nach Ihnen gefragt«, sagt die Frau.
Alice merkt, wie sie leicht errötet. »Sagen Sie ihm, ich bin da.«
Die Wohnung ist spärlich eingerichtet – ein Bett und eine Kommode in einem Zimmer, ein altersschwaches Sofa, ein paar Stühle und ein Tisch in einem anderen, eine Küche mit Spüle und ein paar Hängeschränken und einem alten Gasherd, der völlig nutzlos herumsteht, weil keine Gasflasche angeschlossen ist. Als sie auf der nackten Matratze einschläft, ist der Gedanke an Benoît ein Trost. Benoît ist Normalität, Benoît ist begreifbar. Ist es leichter, etwas zu lieben, das du verstehst?
Er kommt am nächsten Tag, betritt das Haus, als würde es ihm gehören. So sollte es eigentlich nicht sein. Treffen sollen flüchtige, beiläufige, zufällige Begegnungen sein, nicht sie beide zusammen in einer leeren Wohnung, ohne zeitliche Beschränkung. Aber genau das will sie. Sie ist noch immer gekränkt von den Worten des Patron , verwirrt durch die drei Tage mit Clément. Sie ist beschwingter Stimmung, als hätte sie zu viel getrunken, und gleichzeitig niedergeschlagen, als hätte sie einen Freund verloren. Und Benoît ist wie immer – fröhlich, unbekümmert, die Kleidung unordentlich, sein Selbstvertrauen unangetastet.
»Ich muss wieder hin«, sagt sie, als er nach Paris fragt.
»Wieder nach Paris, Minou? Wieso denn das? Das macht den Patron bestimmt überglücklich. Er hat ganz schön über dich geschimpft, als ich ihn zuletzt gesehen hab. Diese verdammte Pariserin, hat er dich genannt, und das war noch der mildeste Ausdruck. Eine garce , hat er gesagt, die auf vornehme Dame macht. Weiß die denn nicht, dass wir Krieg haben?«
Sie lachen zusammen. Es stört sie nicht mehr, dass er sie Minou nennt. Sie merkt sogar, dass ihr die Lockerheit und Vertraulichkeit gefällt. Er ist Teil ihres Lebens, seit sie einander in London über den Weg gelaufen sind, als sie noch eine ängstliche junge Frau namens Marian Sutro war, und jetzt ist er eine Konstante in einer Zeit, in der so vieles verworren und beliebig ist. Und er ist nicht Clément, er ist nicht im Besitz dieser schrecklichen Macht von Jugenderinnerungen. Als sie ihm erzählt, was der Patron plant, blitzt Freude in seinen Augen auf – »Die Fabrik Ramier? Donnerwetter!« –, und wie bei einem Kind, das ein neues Spielzeug bekommen hat, strahlt sein Gesicht vor Begeisterung. »Kennst du die Fabrik Ramier? Sprengstoffhersteller. Einer der größten im Land. Willst du sie dir mal ansehen?«
»Ansehen?«
»Wieso nicht? Das Werk liegt auf einer Insel im Fluss, stromaufwärts, nicht weit von der Innenstadt. Na los, das macht bestimmt Spaß.«
Spaß klingt wie etwas Fremdartiges, etwas, das nur andere Leute haben. »Na schön«, sagt sie.
Sie nehmen Fahrräder, ein junger Mann und eine junge Frau, die zusammen durch die Stadt zur Garonne radeln. Die Flussufer sind verlassen, fast ländlich. Sie denkt an die Themse und die Seine, und jetzt dieser Fluss, still und leer, mit Inseln übersät und von Weiden gesäumt, und Benoît strampelt neben ihr her, scherzt mit ihr, bringt Normalität in ein Leben, das im Grunde verrückt ist. Sie überqueren die Brücke, die auf die Île du Ramier führt, und schlendern dann Hand in Hand weiter, schieben ihre Räder am Haupttor der Fabrik vorbei, unter den gleichgültigen Blicken von Wachleuten.
»Vielleicht sollten wir uns küssen«, sagt Benoît. »Um unsere Tarnung überzeugender zu machen.«
»Du willst die Situation ausnutzen.«
»Klar will ich das.« Er lacht und zieht sie an sich, was die Wachleute mit Applaus quittieren. Sein Lächeln, dieses unbekümmerte Lächeln, ist ganz anders als das von Clément, das wissend ist und zynisch. »Ich vermisse dich so sehr, Minou. Du verstehst das nicht.«
Aber sie versteht es doch. Sie versteht vieles, und das, was sie nicht versteht, ist nicht hier in dieser Stadt im Süden, mit den roten Mauern und dem sanften Licht der Herbstsonne. Sie gehen weiter, lächeln einander an und die Wachleute. Sie winkt ihnen sogar zu, und
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