Die Frau, die vom Himmel fiel: Roman (German Edition)
ein schwacher Hauch, nicht vor Verlegenheit, sondern vor gesteigerter Empfindung.
In Plasonne wird sie begrüßt wie eine verloren geglaubte Tochter. Sophie bemuttert sie, bringt ihr was zu essen, drängt ihr förmlich einen Stuhl auf, damit sie sich ausruht, erkundigt sich, wie es in der Hauptstadt war, wie die Leute gekleidet waren, was gerade in Mode war. Paris scheint für die Leute in der Provinz eine Art Schlaraffenland zu sein, ein irdisches Paradies, das ihre Vorstellung übersteigt, wo es doch in Wahrheit bloß eine trostlose, vom Krieg gezeichnete Stadt ist, in der es weniger zu essen und weniger Freiheit gibt als bei ihnen. Am Abend hören sie Radio. Der Apparat steht in der Küche, ein Gehäuse aus poliertem Holz mit Bakelitknöpfen und einer halbrunden Senderskala. Albert dreht ganz behutsam am Einstellknopf, die Lautstärke leise, das Ohr dicht am Lautsprecher. »Da!«, sagt er mit einem triumphierenden Lächeln und tritt stolz zurück. Durch das statische Rauschen, das aus dem Lautsprecher dringt, hören sie das vertraute Rufsignal, das klingt wie das Schlagen einer fernen Trommel:
• • • –
Und dann verkündet eine Stimme: »Ici Londres!«, eine Stimme aus einer anderen Welt, ein Klang, der seine aufrüttelnde Wirkung nie verfehlt. »Les Français parlent aux Français.«
Sophie beobachtet sie, versucht, ihren Gesichtsausdruck zu deuten.
Die Radiostimme sagt: »Ehe wir anfangen, hier einige persönliche Botschaften.« Und dann folgen die Meldungen, teils absurd, teils poetisch, ernste und komische Zeilen, vorgetragen mit der präzisen Aussprache eines Mannes, der gehört werden möchte trotz Entfernung und Störungen und absichtlicher Störmaßnahmen: Großmutter hat die Artischocken gekauft. Die Herbstwolken bringen Winterregen. Alles Gute wird gelingen. Und dann:
»Paul geht in zehn Minuten. Ich wiederhole: Paul geht in zehn Minuten.«
»Na bitte«, sagt Alice mit einer kleinen Glücksregung, und Sophie lächelt sie an, weiß sie doch, dass Alice eine Art Triumph errungen hat, dass London gesprochen hat, dass das Ende irgendwie ein kleines Stückchen näher gerückt ist.
Im Radio hat die Nachrichtensendung begonnen. Es geht vor allem um Russland, ein Land, das Albert verehrt, aber nie gesehen hat und sich auch kaum vorstellen kann. Der Sprecher berichtet von Zehntausenden Gefallenen, von ganzen Armeen, die in Gefangenschaft geraten sind, so viele Menschen, die auf den Müllhaufen geworfen werden, dass es unvorstellbar ist, eine solche Zahl jemals ersetzen zu können. Und doch geht der Krieg weiter.
»So, jetzt musst du aber schlafen«, sagt Sophie. »Du bist müde.«
II
Der Patron brüllt. Er steht in Gabrielles Küche, wo die alte Mutter in der Ecke sitzt und vor sich hin strickt und kaum ein Wort hört, und er ist vor Wut weiß im Gesicht. »Was fällt Ihnen ein, es sich in Paris gut gehen zu lassen? Wir haben wichtige Dinge zu erledigen! Sie müssen hier in Bereitschaft sein!«
Sie hat keine Angst mehr vor ihm, das ist der Unterschied. Als sie hier ankam, war er eine Furcht einflößende Macht, furchteinflößender als die Gestapo. Doch jetzt sieht sie ihn als das, was er ist, ein kleiner Mann in einer beängstigenden Position, der Kräfte auszugleichen sucht, die ihn jeden Moment zermalmen könnten. Und der in Gabrielles kleinen und hingebungsvollen Aufmerksamkeiten Trost findet.
»Ich war nicht zum Spaß in Paris«, sagt sie, als das Unwetter abgezogen ist. »Das wissen Sie genauso gut wie ich.«
Er spuckt irgendetwas aus, einen Tabakkrümel vielleicht. »Wenn die wen in Paris brauchen, dann sollen sie verdammt noch mal Leute in der Stadt absetzen. Die können von mir aus direkt oben auf dem Scheiß-Eiffelturm landen. Sich ihn in den Hintern schieben.«
»Und ich muss leider noch mal hin.«
»Noch mal hin? Was soll das heißen, Sie müssen noch mal hin?«
»Ich muss eine Rückführung organisieren.«
»Ich dachte, es ging bloß um die blöden Kristalle.«
»Nein. CINÉASTE ist aufgeflogen, und Marcelle muss außer Landes gebracht werden.«
»Aber das können doch Leute in Paris erledigen.«
»Sie hält sich versteckt. Die Stadt ist ein Albtraum, und sie hat Panik, geschnappt zu werden. Nur ich weiß, wo sie ist. Praktisch alle Pariser Ringe sind zusammengebrochen, und es hat Dutzende Verhaftungen gegeben.«
»Und Sie haben die Rückführung bereits organisiert? Wie haben Sie den Kontakt hergestellt?«
Sie lügt. Wieso soll er erfahren, dass sie Anweisungen hatte,
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