Die Frau, die vom Himmel fiel: Roman (German Edition)
erledigt, die Nachricht empfangen, der verletzliche Moment des Kontaktes vorüber. Sie schaltet das Gerät aus und lässt es kurz abkühlen. Dann gilt es, Hausarbeit zu erledigen, all die Dinge, die getan werden müssen: die Antenne aufwickeln, jeden Fetzen Papier einsammeln, alles wieder genau an seinen Platz zurückstellen, sämtliche Spuren beseitigen, die verraten könnten, dass sie da gewesen ist. Wieder zurück in der Wohnung, zieht sie sich in ihr Zimmer zurück, um die Antwort aus Grendon zu entschlüsseln.
Nüchterne Anerkennung, verhaltenes Lob, wie nicht anders zu erwarten. Sie wollen natürlich mehr wissen über CINÉASTE , mehr über PROSPER, mehr über die Katastrophe, die die Pariser Ringe ereilt hat. Aber sie wird ihnen nicht mehr mitteilen. Jede Minute, die du sendest, kostet dich eine Minute deines Lebens. Sie nimmt einen großen Glasaschenbecher und verbrennt sorgfältig alle Zettel, jedes Fitzelchen Nachrichten und Code, dann geht sie ins Bad und spült die Asche im Klo hinunter. Sie fühlt sich erschöpft, spürt die Feuchtigkeit in den Achselhöhlen und den Schweiß auf der Stirn, als sie in den Salon geht, wo Clément doch noch immer auf sie wartet.
»So«, sagt sie. »Alles erledigt.«
Ihre Hand ist zittrig, als sie das Glas Cognac entgegennimmt, das er ihr anbietet. Er streicht ihr eine Haarsträhne aus der Stirn. »Du siehst müde aus.«
»Bin ich auch.«
»Du machst mir Angst«, sagt er. »Ich hab dich noch nie so erlebt. Getrieben. Besessen.«
»Unsinn. Ich hab einen Auftrag zu erledigen, das ist alles. Ich bin kein Kind mehr, Clément.«
»Du wiederholst dich.«
»Weil es stimmt.«
Er legt seine Arme um sie. Sie empfindet die Berührung als tröstlich. Sie will das nicht empfinden, aber so ist es. Sie erinnert sich an die Kinder, die in der impasse unweit von Yvettes Wohnung Fangen gespielt haben, an den kleinen Jungen, der hingefallen war, an die Tränen, die ihm in die Augen stiegen, als er sich Mitleid suchend umschaute. Aber er hatte kein Mitleid bekommen, und auch für sie darf es jetzt keines geben. Tränen sind das Letzte, was sie gebrauchen kann. Behutsam löst sie sich aus seiner Umarmung.
»Ich bin hier nicht sicher«, sagt sie zu ihm. »Bis zum nächsten Vollmond können wir nichts unternehmen, und ich kann nicht einfach hier rumsitzen und warten. Morgen muss ich weg.«
»Weg? Wohin denn in Gottes Namen? Du bist hier sicher, Äffchen.«
Diesmal muss sie lachen, als er den Kosenamen wieder benutzt. »Paris ist im Moment eine gefährliche Stadt, das weißt du. Ich kann mich nicht zehn Tage hier in der Wohnung verstecken, auch wenn ich das gern täte. Es ist ein Risiko, dass ich hier bin. Den Leuten fällt so manches auf. Die Leute tratschen. So einfach ist das. Es ist sicherer, in Bewegung zu bleiben. An einem Ort zu bleiben, das ist gefährlich. Ich bin rechtzeitig zurück. In einer Woche. Und bis dahin solltest du dich endlich entscheiden, was du machen willst. Wenn du’s für niemanden sonst tust, tu’s wenigstens mir zuliebe.«
TOULOUSE
I
Die Rückkehr nach Toulouse ist wie eine Reise von Kontinent zu Kontinent, die Überquerung eines Ozeans, um in einer anderen Welt an Land zu gehen. Es ist ein strahlender und warmer Morgen, ein südlicher Morgen, zehn Grad wärmer als Paris, mit einer in Emailleblau eingebetteten Herbstsonne; und Alice spürt keine Angst. Das ist neben der Temperatur der andere deutliche Unterschied – die Abwesenheit dieser unentwegten, nagenden Angst, die sie in Paris empfunden hat. Auch hier ist es gefährlich, aber es ist eine Gefahr, die man sehen kann, etwas, das sich einschätzen und bekämpfen lässt, wie bei einer Infektion. Die Gefahr in Paris ist wie ein Krebsgeschwür, unsichtbar, unberechenbar und wahrscheinlich unheilbar.
Beschwingt, etwas benommen von zu wenig Schlaf, fährt sie mit dem Regionalzug nach Norden. Die Landschaft ist wohltuend vertraut, und als der Bus sie schließlich am Marktplatz in Lussac absetzt, hat sie das Gefühl, nach Hause zu kommen. Gabrielle ist überglücklich, sie wiederzusehen. Wie war es in Paris? Erzählst du mir alles? Wie waren die Leute, was für Mode tragen sie, war die Stadt voll, und hast du dir viele Sehenswürdigkeiten angeguckt? Ach ja, und Roland hat nach dir gefragt.
Roland?
Der Patron . Er ist ein paarmal vorbeigekommen. Sie haben sich ziemlich lange unterhalten. Roland arbeitet so hart, ist so engagiert. Als sie seinen Namen erwähnt, wird Gabrielle rot, nur ganz leicht, bloß
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