Die Frau, die vom Himmel fiel: Roman (German Edition)
Himmelherrgott noch mal. Die haben Violettes Vater umgebracht. Und jetzt werden sie mich umbringen und dich höchstwahrscheinlich auch.«
Für einen Moment sind sie wie erstarrt. Über ihnen spotten die Krähen, wie der Chor einer griechischen Tragödie. Wind schüttelt die Äste. Alice sieht, wie sich die Elsässerin kurz abwendet, und diesen Moment nutzt sie aus: Sie lässt Yvettes Arm los und rennt. Sie rennt schneller als je zuvor in ihrem Leben. Sie rennt den Hang hoch, den stechenden Regen im Gesicht, mit rutschenden Füßen auf dem pavé . Sie rennt. Ob sie verfolgt wird, weiß sie nicht. Rennen ist Bewegung, Rennen ist Handeln, Rennen ist das Gegenteil von Stehen und einfach Abwarten, dass sie dich kriegen. Rennen ist Freiheit, kurzfristig und vielleicht illusorisch, aber gleichwohl Freiheit. Die Freiheit des entflohenen Häftlings. Sie hat absurde, sprunghafte Gedanken, während sie rennt. Wie stolz ihr Vater wäre, wenn er sie jetzt so rennen sehen könnte. Wie stolz Ned wäre, wie stolz Benoît und Clément. Sie würden sie anfeuern, die Männer, die auf die eine oder andere Weise Platz in ihrem Leben beanspruchen. Renn!, würden sie rufen. Renn! Und so rennt sie. Nicht wie der Wind, aber mit dem Wind, vorbei an Denkmälern und Mausoleen, springt über Gräber und schlittert um Kreuzigungsfiguren herum, ohne sich darum zu kümmern, ob ihr jemand auf den Fersen ist oder nicht. Ein paar Leute schauen ihr nach. Ein alter Mann – ein Totengräber? – lehnt auf einem Spaten und sieht zu, wie sie vorbeirennt. Irgendwo ruft jemand was, aber der Klang ist körperlos und könnte alles bedeuten. Bloß eine junge Frau, die über einen Friedhof rennt. Merkwürdig.
Am Ausgang bleibt sie stehen. Es ist niemand da. Sie geht durchs Tor und überquert zügig die Straße. Ein paar Sekunden Vorsprung. Keine Zeit zu verlieren. Sie biegt in eine Seitenstraße, sodass der Friedhof nicht mehr zu sehen ist. Irgendwo in der Nähe ist das Sirenengeheul eines Polizeiwagens zu hören. Ihretwegen? Sie biegt ab und rennt ans andere Ende der Straße, biegt wieder ab und rennt erneut, folgt ihrem Instinkt, überquert eine breite Straße im Laufschritt, ehe es bergauf geht Richtung Belleville, soweit sie das vom Stadtplan her in Erinnerung hat, ein Gewirr aus alten und halb verfallenen Gebäuden, die auf einem Hügel am Rand von Paris hocken, einem Hügel so hoch wie die Butte de Montmartre. Bestimmt versammeln sie sich irgendwo nördlich vom Friedhof und verteilen sich von dort. Du musst jeden ihrer Schritte vorhersehen. Pkw, Lieferwagen, sie können eine ganze Fahrzeugflotte einsetzen, wenn sie dich für wichtig genug halten.
Sie ist wichtig. Eine britische Terroristin, die in Paris in der Falle sitzt – was könnte es Besseres geben? Als sie eine Straße überquert, ruft jemand etwas. Sie blickt sich um. Ist es Miessen, dieser grässliche Mann, der ihr schon einmal gefolgt ist? Kann er es sein? Aber sie wartet nicht ab, um es herauszufinden. Sie läuft einfach über die Straße und rennt eine Gasse hinunter, ohne darauf zu achten, wohin sie führt, will einfach nur weg von ihm, weg von ihnen, von jedem, der sie verfolgt. Sie hastet weiter, mal gehend, mal rennend, vorbei an neugierigen Fußgängern, durch Straßen, die zu verwinkelten Gässchen werden und sich zwischen alten, maroden Mietshäusern hindurchwinden. Ein Irrgarten. Irgendwo in der Ferne hört sie noch mehr Sirenen, als würden die Toten vom Friedhof rufen. Sie kann sie im Rücken spüren, wie sie schnüffelnd die Luft des heruntergekommenen Viertels einsaugen, spürt ihren Atem im Nacken. Eine Schar Kinder strömt aus einer Schule, wie Stare in ihren schwarzen Uniformen, lachend und plappernd. Sie drängt sich durch sie hindurch und kommt auf einen Platz, von dem sechs Straßen abgehen. Hausfrauen stehen vor einem Gemüseladen Schlange, und ein Pferdekarren wartet vor einem Weinkeller. Sie bleibt stehen, ringt um Atem und versucht, sich zu orientieren.
Das Pferd dampft in der feuchten Luft. Dung liegt auf der Erde, es riecht nach Urin.
Wo lang? Es ist wie ein Rätsel aus Alice im Wunderland . Welchen Ausgang wählen? Einer von ihnen könnte den Tod bedeuten, einer das Leben. Welcher?
Während sie noch zögert, fährt ein Auto auf den Platz, wieder ein schwarzer Citroën Traction Avant, die Motorhaube mit weißen Winkeln verziert wie ein Sarg. Türen öffnen sich, und zwei Männer steigen aus. Sie duckt sich in eine Seitenstraße, hört, wie hinter ihr eine
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