Die Frau, die vom Himmel fiel: Roman (German Edition)
Wagentür knallt und Schritte folgen. Eine Stimme ruft – ob auf Deutsch oder Französisch, spielt keine Rolle, weil der Sinn in beiden Sprachen eindeutig ist. Halt!
Und ihr bleibt nichts anderes übrig, als zu gehorchen, denn die Straße vor ihr endet an einer steilen Treppe. Eine Sackgasse. Und oben auf der Treppe sieht sie für einen kurzen Moment die Gestalt von Julius Miessen.
Eine wilde Panikwelle droht, sie zu überwältigen. Sie dreht sich um. Zwei Männer zeichnen sich als Silhouetten am Eingang der impasse ab. Sie schaut über die Schulter, und die Treppe ist leer. Miessen, falls es Miessen war, ist verschwunden.
»Herkommen!«, ruft einer der Männer. Er trägt einen Ledermantel, der andere einen hellbraunen Trenchcoat. Und beide tragen einen Filzhut, als hätten sie sich die Gangster in amerikanischen Filmen zum Vorbild genommen. Sie stehen mitten auf der Straße, während sie auf sie zugeht, einer leicht versetzt hinter dem anderen. Sie sind bloß Gesichter, nichtssagend, knochig. Einer von ihnen, der, der näher zu ihr steht, hat einen dünnen Schnurrbart. Sie kann förmlich ihren Vater hören, wie er sich über solche Schnurrbärte auslässt: Vertreter und Theaterdirektoren. Der hintere Mann hat eine Hand in der Tasche. Er muss als Erster ausgeschaltet werden.
Ihre Panik lässt nach, wird ersetzt durch etwas anderes, ein Gefühl der Distanziertheit. »Sie haben mir Angst gemacht«, ruft sie. »Was haben Sie denn erwartet, wenn Sie hier so angestürmt kommen? Was wollen Sie?«
»Venez.« Der Vordere winkt ihr, näher zu kommen, und wie jede unschuldige Zivilistin tut sie wie geheißen. Sie ist verängstigt, aber sie tut wie geheißen. »Ich komm ja, ich komm ja. Wen suchen Sie denn eigentlich?«
»Nehmen Sie die Hand aus der Tasche!«
»Wie bitte?« Sie versteht seinen Akzent nicht. Sie möchte ja gehorchen, aber sie kann nicht genau verstehen, was er sagt. »Was?«
»Ihre Hand!«
»Ich versteh nicht.«
Sie ist jetzt näher bei ihnen. Ein Dutzend Schritte. Zu weit entfernt, aber es muss reichen. Sie kennt die Distanzen und die Winkel, sie kennt das Timing. Bloße Sekundenbruchteile. Greif als Erste an, und sie sind sofort in der Defensive, hinken hinterher. Das ist der einzige Vorteil, den du hast.
»Haut les mains!«, ruft der Mann.
So als wollte sie gehorchen, hält sie ihre Umhängetasche vor sich und legt sie behutsam auf die Erde. Das wollen sie doch, oder? Die Augen der Männer folgen ihrer Bewegung, schauen auf die Tasche, als hätten sie nur die im Visier, die Tasche und alles, was drin ist. Vielleicht gibt ihr das eine Sekunde Vorsprung, vielleicht eine volle Sekunde. Sie reißt die Pistole aus der Manteltasche und zieht im selben Moment den Schlitten nach hinten, genau wie auf dem Schießstand in der Meoble Lodge, lässt sich auf ein Knie fallen, die Pistole mit beiden Händen vor sich ausgestreckt, auf den hinteren der beiden Männer gerichtet. Die Fairbairn-Sykes-Stellung. Zwei Schüsse, in rascher Folge, zwei scharfe und unwiderrufliche Explosionen in der engen Gasse.
Die Zeit verlangsamt sich.
Der vordere Mann zuckt zusammen. Sein Begleiter klappt nach vorne, als hätte er einen Schlag in den Magen bekommen. Sie springt nach rechts, zielt auf den vorderen Mann, drückt erneut zweimal ab. Zwei weitere Schüsse, wieder rasch hintereinander, der Schlitten jagt vor und zurück, leere Hülsen klimpern auf den Boden. Der Mann schreit auf und sinkt auf ein Knie, hebt die linke Hand, als könnte er weitere Kugeln damit abwehren.
Irgendwo brüllt jemand. Alice läuft nach vorn. Der vordere Mann will etwas aus dem Hosenbund ziehen. Sie drückt wieder ab, aus zwei Schritten Entfernung, schießt ihm in den Kopf. Ein Schuss in den Bauch tötet, hat der Ausbilder gesagt. Der Bauch bietet das größte Ziel am Körper, und der Tod tritt ein, weil der Darminhalt sich in die Bauchhöhle ergießt und es zu Infektionen kommt und die Ärzte dann machtlos sind. Aber das kann ein oder zwei Tage dauern. Ein Kopfschuss ist schwieriger, aber er ist endgültig.
Der andere Mann liegt mit leerem Gesichtsausdruck auf der Straße, starrt aus dem einen Auge, das noch zu sehen ist, in den Himmel. Sie holt rasch ihre Umhängetasche und rennt dann an den beiden Körpern vorbei und zurück auf den Platz. Die Warteschlange von Hausfrauen hat sich aufgelöst. Zwei Leute spähen aus der Tür eines Cafés. Gesichter starren durch Fenster. Der Citroën steht noch da, mit laufendem Motor.
Wo ist Miessen?
Sie
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