Die Frau, die vom Himmel fiel: Roman (German Edition)
der es nach feuchtem Tweed roch. Draußen regnete es. Drinnen loderte ein Feuer im Kamin, und nach dem Abendessen ging man an die Bar, wo der Ausbildungsstab, so wurde erzählt, darauf achtete, wie trinkfest man war. Vieles von dem, was die Auszubildenden wussten, war das Produkt von Gerüchten und Spekulationen, von Fantasien, die das Vakuum der Geheimhaltung auffüllten. Was genau war das für eine Organisation, die sie rekrutiert hatte? Die Special Operations Executive, sagte Emile, aber woher wusste er das? Und was waren die Ziele dieser Organisation? Und warum um alles in der Welt hatte man sie in die Wildnis von Schottland verfrachtet, in diese feuchte, mückenverseuchte Gegend? Die Ahnungslosigkeit vereinte die Auszubildenden und schweißte sie zu einer Art Kameradschaft zusammen, so wie Gefängnisinsassen sich gegen ihre gemeinsamen Feinde, Entbehrung und Unbehagen, zusammentun.
Am ersten Tag und an allen Tagen danach mussten sie gleich nach dem Wecken auf dem Rasen vor dem Haus zum Frühsport antreten. Anschließend gab es Frühstück, immer mit Speck und Eiern, ein Luxus, den die meisten Menschen vergessen hatten. Der Lehrgang selbst war dagegen alles andere als luxuriös. Gemeinsam kletterten sie Hügel hinauf und krochen über sumpfigen Heideboden, paarweise quälten sie sich über den Hindernisparcours, gruppenweise wateten sie durch angeschwollene Flüsse und bauten Flöße, mit denen sie über das unruhige Wasser des Sees fuhren. Die zwei Frauen schlugen sich so gut sie konnten. Yvette brachten die Übungen an den Rand der Erschöpfung. Nachts weinte sie lautlos in der Dunkelheit des Zimmers, das sie sich mit Marian teilte. Wenn sie sich unterhielten, dann nur in Andeutungen und mit leiser Stimme. Innerhalb der Gruppe kursierte das Gerücht – anscheinend von Emile in die Welt gesetzt –, dass in ihren Zimmern Mikrofone versteckt waren, hinter den Fußleisten oder in den Lampenfassungen, damit die Ausbilder Privatgespräche belauschen konnten, um herauszufinden, wer von ihnen schwach und wer stark war. Einmal kroch Yvette wie eine Maus zu Marian ins Bett, lag dann in ihren Armen wie ein Kind, die warmen, feuchten Lippen an Marians Wange, und sprach im Flüsterton, damit niemand mithören konnte.
Marian hegte mütterliche Gefühle für sie. Dabei war dieser Beschützerinstinkt absurd. Yvette war acht Jahre älter und Witwe. Sie hatte ein Kind zur Welt gebracht. Sie war in einem offenen Boot aus Frankreich geflohen und bis zur Landung an der spanischen Küste tagelang auf See unterwegs gewesen. Sie war eine Frau, und Marian im Vergleich zu ihr noch ein junges Mädchen, und doch hatte ihr Verhältnis die Dynamik von Tochter und Mutter, Beschützter und Beschützerin.
»Die finden, ich bin miserabel«, flüsterte Yvette. »Ich will doch bloß zurück nach Frankreich, wieso müssen die mir das alles antun? Was ist das denn für eine Ausbildung? Ich will bloß nach Hause. Ich sollte lieber gleich aufgeben. Die lassen mich sowieso durchfallen.«
In der nächsten Nacht wurde Marian von den Schreien ihrer Zimmergenossin aus dem Schlaf gerissen. »Va-t’en!«, brüllte Yvette. »Va-t’en!« Aber wer da verschwinden sollte, war nicht klar. Als sie aufwachte, im Dunkeln vor sich hinmurmelnd, hatte sie keine Erinnerung mehr an den Traum.
Die Nächte waren beängstigend und leer, die Tage dagegen ausgefüllt mit Aktivitäten. Sie absolvierten Gewaltmärsche, um die Ausdauer zu stärken, und Hindernisläufe, um fitter und wendiger zu werden. Sie schwangen sich an Seilen über imaginäre Flüsse, kletterten Mauern hoch und krochen bäuchlings unter Stacheldrahtzäunen hindurch, während ein fest montiertes Maschinengewehr Salven über sie hinwegfeuerte und ihnen die Kugeln ohrenbetäubend laut über den Rücken zischten. Vorträge und Übungen gingen ineinander über, die Theorie verschmolz so unmittelbar mit der Praxis, dass ihnen dieses Lernen und Handeln schließlich ganz normal vorkam und das untätige und bequeme Leben, das sie früher geführt hatten, wie eine unvollständige Erinnerung. Nur abends, nach dem Essen, konnten sie tun und lassen, was sie wollten, und selbst dann war immer jemand vom Ausbildungsstab in der Nähe, der sie beobachtete. »Natürlich beurteilen sie uns«, sagte Emile. »Das ist ein alter Trick. Mach einen auf guten Kumpel, und du erfährst mehr als bei jedem offiziellen Vorstellungsgespräch. Hab ich selbst auch so gemacht, wenn ich Leute eingestellt habe. Am besten war, mit
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