Die Frau, die vom Himmel fiel: Roman (German Edition)
ihnen was trinken zu gehen. Ihnen ein paar Whisky einflößen und schön lustig sein. So erfährst du die Wahrheit über einen Mann. In vino veritas , wie schon die alten Römer gesagt haben.«
»Wann hast du denn Leute eingestellt?«, fragte Marian und bedauerte die Frage gleich wieder, weil sie eine langatmige Erklärung befürchtete.
»Als ich im Kongo war. Im Bergbau. War ein hartes Leben. Dagegen ist das hier das reinste Dolce Vita.«
Die seltenen Erholungspausen nutzten einige Auszubildende zum Lesen – im Haus befand sich eine kleine und abgegriffene Sammlung französischer Romane: ein paar von Colette, ein paar Krimis von Gaston Leroux, eine zerlesene Ausgabe von Madame Bovary . Maurice und Emile spielten fast unablässig Schach, während andere die Merkblätter studierten, die sie erhalten hatten. Darin ging es um Tarnung im Gelände und Kampftechniken ohne Waffen und das einhändige Abfeuern einer Pistole, wie aus dem Lehrbuch der Nahkampfausbilder W. E. Fairbairn und E. A. Sykes.
Marian schrieb Briefe an ihre Eltern, an ein paar Frauen, mit denen sie zusammen bei der WAAF gearbeitet hatte, an Ned. Gelegentlich wurde sie von einem der Ausbilder in Gespräche verwickelt. Er sprach fließend Französisch, wenn auch mit englischem Akzent. Er ging nacheinander alle Auszubildenden durch, fragte sie nach ihrer Vergangenheit, ihren Verbindungen zu Frankreich, ihren Ansichten über die Vichy-Politik und die Probleme des Widerstands. »Was glauben Sie, wo die Loyalitäten der französischen Kommunisten liegen?«, fragte er Marian. »Beim französischen Volk oder bei Stalin?«
»Besteht denn zwischen diesen Positionen ein Widerspruch?«
»General de Gaulle denkt das jedenfalls.«
»Und was denken Sie?«
»Das frage ich Sie .«
Er fragte sie nach den anderen im Lehrgang, nach dem Frankokanadier mit dem grauenhaften Akzent und nach Emile.
»Ich wünschte, er würde nicht immer über alles Bescheid wissen.«
Der Ausbilder lächelte verständnisvoll. »Und finden Sie, dass Yvette Fortschritte macht?«
»Ich finde, sie kommt gut klar.«
»Glauben Sie, sie hält bis zum Schluss durch? Hat sie das Zeug dazu?«
»Ich glaube, sie ist zäher, als sie aussieht.«
»Und wenn sie Ihnen sagen würde, dass sie nicht weitermachen will, was würden Sie ihr dann sagen?«
»Sie hat mir aber nichts dergleichen gesagt, daher kann ich das auch nicht beantworten.«
»Rein hypothetisch.«
»Ich glaube, sie zieht das durch. Sie hat richtig Schneid.«
»Betrachten Sie sie als Freundin?«
»Was geht Sie das an?«
»Mich geht alles was an. Alles, was sich auf Ihre Mission auswirken könnte. Wo liegen Ihre Loyalitäten, Miss Sutro? Bei Ihren Freunden oder bei der Organisation?«
Sie musste lachen. »Ich weiß ja nicht mal, was für einer Organisation ich überhaupt angehöre. Es fällt mir schwer, gegenüber etwas loyal zu sein, das so nebulös ist.«
»Was glauben Sie denn dann, was Sie hier machen?«
»Ich fürchte, die Frage können Sie besser beantworten als ich.«
Wenn sie einmal den wachsamen Augen und aufmerksamen Ohren entkommen wollte, machte sie allein Spaziergänge in der Natur, genoss deren leere Einsamkeit in der lang währenden Dämmerung und nahm sogar die Mücken in Kauf. Wenigstens bin ich hier draußen allein, dachte sie. Wenigstens kann ich hier in Ruhe nachdenken.
IV
Die Zeit verstrich mit jener merkwürdigen Relativität, die an Neds Physik erinnerte: relative Zeit, elastische Zeit. Die Stunden des Unbehagens streckten sich dahin wie Tage, doch der Zeitraum des Lehrgangs verdichtete sich von Tagen zu scheinbar bloßen Stunden. Sie absolvierten ein Waffentraining – alle möglichen Typen von Pistolen, Gewehren, leichten Maschinenpistolen. Sie lernten, eine Waffe zu testen, sie auseinanderzunehmen und wieder zusammenzusetzen, ein Magazin zu füllen und einzuführen, aus der Hüfte und von der Schulter und auf dem Bauch liegend zu feuern. Der Schießplatz war eine nachgebildete Kleinstadtstraße, die zwischen den Nebengebäuden errichtet worden war, als Ziele dienten die Silhouetten böser Buben, die für einen kurzen Moment und nach dem Zufallsprinzip auftauchten, mithilfe von Hebeln und Flaschenzügen. Die Auszubildenden duckten sich und liefen im Zickzack, sprangen mal hierhin, mal dorthin, feuerten aus der Körpermitte, die Arme vor sich ausgestreckt.
»Nicht zielen«, wiesen die Ausbilder sie an. »Euer Instinkt ist gefragt. Als würdet ihr mit dem Finger zeigen.« Sie sprachen über Fairbairn
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