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Die Frau, die vom Himmel fiel: Roman (German Edition)

Die Frau, die vom Himmel fiel: Roman (German Edition)

Titel: Die Frau, die vom Himmel fiel: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Simon Mawer
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und aus, in der Mehrzahl Soldaten, die ihre Seesäcke auf den Schultern schleppten und einander mal gutmütig, mal boshaft beschimpften. Sie döste und las, wobei die beiden Zustände ineinander übergingen, sodass sie unsicher war, ob sie etwas gelesen oder es nur geträumt hatte. Selbst die abgeschlossene Welt ihres Abteils mit der zusammengewürfelten kleinen Reisegruppe kam ihr vor wie das Produkt einer verzerrten Fantasie. Wohin fuhren sie, und was erwartete sie, wenn sie da waren? War das alles ernst oder bloß ein absurder Witz, ein Schabernack, der mit vier naiven Menschen getrieben wurde, die alle den lachhaften Glauben hegten, sie könnten einen Beitrag zu den Kriegsanstrengungen leisten? Vielleicht, dachte sie, und ein leises Lachen sprudelte ihr in der Kehle hoch, vielleicht war sie ja durch die langen Nächte im Filterraum verrückt geworden und wurde jetzt zu irgendeiner Klapsmühle im hohen Norden des Landes gebracht, weit weg vom Krieg, weit weg von der Gefahr fallender Bomben, wo sie alle zusammen, harmlose Irre, die sie waren, ihre jeweiligen Wahnvorstellungen ausleben konnten.
    Kurz vor Carlisle wartete der Zug eine halbe Stunde lang auf irgendetwas, das nie geschah, ehe er weiter über die Grenze nach Schottland zuckelte. Regen fiel.
    II
    In Glasgow übernachteten sie in einem Hotel am Bahnhof. Marian teilte sich ein Zimmer mit Yvette. Als sie im Dunkeln im Bett lagen, taten sie etwas, was sie vermutlich nicht tun sollten: Sie unterhielten sich über ihr Privatleben, auf Französisch, als wäre die Sprache ein Geheimcode, der es ihnen ermöglichte, ehrlich zueinander zu sein. »Ich will nach Hause«, gestand Yvette. »Ist mir egal, ob die Deutschen da sind oder nicht, ich will einfach nach Hause.« Sie war sicherlich älter als Marian, wirkte aber jünger, verloren auf dieser seltsamen, nebulösen Reise und unsicher in einem Land, wo ihr holpriges Englisch sie als jemand verriet, der zu bemitleiden war, zu den Vertriebenen Europas zählte. Zusammen mit ihrem englischen Mann war sie kurz vor dem Einmarsch der Deutschen in Paris nach Süden geflohen. Sie hatten sich bis zum Mittelmeer durchgeschlagen und in Höhe von Montpellier ein Boot gefunden, das sie nach Spanien brachte. Es war eine mutige und beinah tollkühne Fahrt gewesen, aber irgendwie hatten sie es geschafft. »Wo ist dein Mann jetzt?«, fragte Marian.
    Die Frau lag auf dem Rücken in der Dunkelheit, ein Schatten mit einer Stimme. »Er ist tot.«
    »Oh. Das tut mir leid. Wie furchtbar.«
    »Er ist zur Armee, weißt du, und nach Ägypten geschickt worden. Das Schiff wurde irgendwo vor Sizilien torpediert. Er hieß Bill. Bill Coombes. Ich habe ihn geliebt.«
    Schweigen trat ein. Weinte sie leise im Dunkeln? Vielleicht nicht. Sie hatte etwas Kühles und Berechnendes an sich, als wäre tief in ihrem Innern ein wichtiges Teil des Menschenapparats kaputtgegangen. Später verriet sie, dass sie ihre kleine Tochter bei den Schwiegereltern zurückgelassen hatte.
    »Du hast eine Tochter? «
    Die zarte Stimme plapperte im Dunkeln weiter, ohne Kummer, ohne Angst, eine seltsame, charakterlose Landschaft aus Worten. »Sie heißt Violette. Die Engländer nennen sie Violet. Oder Vi. Sie ist zwei. Ein goldiges kleines Mädchen, aber weißt du, ich vermisse sie nicht. Ist das nicht schrecklich? Ich vermisse sie kein bisschen.« Und dann fing sie plötzlich doch an zu weinen, nicht um ihr Kind, sondern weil sie nicht in der Lage war, es zu vermissen. »Entschuldige«, sagte sie leise. »Ich höre mich bestimmt herzlos an. Das ist das Problem, denke ich. Ich bin herzlos. Mein Herz hat sich in Stein verwandelt.«
    Am nächsten Morgen verließ der Zug Glasgow bei unerwartet sonnigem Wetter, fuhr an der Küste entlang, wo starre Kriegsschiffe vor Anker lagen, rollte dann ganz langsam landeinwärts, als müsste er sich in die Wildnis hineintasten. Wie weit nördlich ging es denn noch? Und wie weit entfernt von Frankreich? Die Landschaft wurde rauer, die Namen der Bahnhöfe klangen fremdartig: Ardlui, Crianlarich, Bridge of Orchy. Sie durchquerten eine trostlose Moorlandschaft und fuhren dann durch die Hügel, vorbei an vereinzelten Bahnsteigen, auf denen niemand wartete, durch Täler ohne eine einzige Straße. Schließlich kamen ein paar Häuser in Sicht, und sie hielten an einem namenlosen Bahnhof, der plötzlich zum Schauplatz militärischer Aktivitäten wurde. Türen entlang des Zugs flogen auf, und Fahrgäste stiegen aus, ein paar unauffällige Zivilisten,

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