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Die Frau, die vom Himmel fiel: Roman (German Edition)

Die Frau, die vom Himmel fiel: Roman (German Edition)

Titel: Die Frau, die vom Himmel fiel: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Simon Mawer
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Paris gewesen und eine Woche vor dem Einmarsch der Deutschen nach England zurückgekehrt. Danach war sie der WAAF beigetreten, doch letztes Frühjahr war sie aus gesundheitlichen Gründen entlassen worden und versuchte jetzt, wieder Tritt zu fassen, etwas Nützliches zu tun, auch wenn das Militär kein Interesse mehr an ihr hatte. Sie war allein. Ihre Eltern waren beide gestorben, der Vater 1918 an der Spanischen Grippe und die Mutter vor zwei Jahren an Krebs, somit war sie mehr oder weniger auf sich allein gestellt. Sie hatte einen Bruder in der Army, aber der war im Nahen Osten. Ihre sämtlichen Papiere – ihr Examenszeugnis und ihre Lehrbefugnis, Empfehlungsschreiben von früheren Arbeitgebern – hatte sie leider in Paris zurücklassen müssen. Sie besaß praktisch nur das, was in ihren Koffer passte. Ein ganzes Leben.
    Die nächsten paar Tage waren eine Art Brettspiel, wobei die stark zerstörte Stadt das Brett und die wenigen Leute, die sie traf, die Figuren darstellten. Aber wer schaute zu? Sie fuhr mit Bussen und war viel zu Fuß unterwegs. Sie traf sich in einer Buchhandlung mit einem zwielichtigen Mann, der ihr verschiedene Botschaften für Agenten mitgab, die nicht existierten. Sie wählte Wohnungen aus, um Funkmeldungen abzusetzen, und suchte geeignete Orte für tote Briefkästen. Sie ergatterte eine Stelle als Aushilfslehrerin an einer Mädchenschule in Filton und bestimmte die ahnungslose Schulsekretärin als Kontaktperson. Auch ein Zeitungsverkäufer auf der Queens Road wurde ihr Kontakt. Einen Nachmittag verbrachte sie damit, mögliche tote Briefkästen zu identifizieren – ein lockerer Stein in der Treppe der Bethesda Chapel auf der Great George Street und die Nische hinter einem Verteilerkasten neben einem Kino auf der Whiteladies Road – und geeignete Orte für Treffen mit hypothetischen Agenten auszuwählen. Sie wusste nicht, welchen Bezug das alles zur Realität hatte, aber sie schob ihren angeborenen Zynismus mal für eine Weile beiseite und spielte das Spiel mit Begeisterung.
    Lieber Ned, es macht ungeheuer viel Spaß, wie ein kunstvoll geplantes Versteckspiel, bei dem einem die ganze Stadt zur Verfügung steht. Bin ich eine Spionin oder eine mysteriöse Verbrecherin? Oder bin ich bloß Alice, die durch den Spiegel gegangen ist? Ich weiß noch, wie Du mir erklärt hast, die Zwillinge Zwiddeldum und Zwiddeldei stünden für reale Materie und eine neue Art von Stoff, der das genaue Gegenteil ist. Terrestrisch und kontraterrestrisch, war es das? Vielleicht bin ich ja so. Alle um mich herum sind real, und ich bin irreal. Vielleicht nehmen sie mich deshalb nicht wahr …
    Das tägliche Abendessen war eine traurige Angelegenheit in einem düsteren Esszimmer mit der anderen Mieterin, einer jungen Frau namens Maisie. Die Pensionswirtin kochte ihnen einen wässrigen Eintopf mit vielen Kartoffeln und wenig anderem. Ein Rinderbrühwürfel sorgte für einen Anflug von Fleischgeschmack. »Kann im Knast nicht schlimmer sein«, murrte Maisie, als die Wirtin außer Hörweite war. Abgesehen von diesem kurzen Moment des Aufbegehrens sprachen sie über unverfängliche Dinge, welche Filme sie gesehen, welche Bücher sie gelesen hatten, welche Filmstars sie mochten. Und Männer. »Hast du einen Freund?«, fragte Maisie.
    Marian dachte an Clément, an das, was gewesen war und was hätte sein können. »Eigentlich nicht.«
    »Mach dir nichts draus. Lohnt sich zurzeit sowieso nicht. Ich hatte einen Freund, aber den haben sie eingezogen, und jetzt ist er irgendwo im Nahen Osten oder so. Hör so gut wie nichts von ihm. Muss ich mir eben selbst Trost verschaffen, wenn du verstehst, was ich meine.« Die junge Frau lachte und wurde rot. »Na ja, was ist heutzutage sonst schon sicher, hä?«
    »Nichts, schätz ich.«
    »Jeder muss sehen, wo er bleibt, oder?«
    »Seh ich auch so.«
    In dieser Nacht lag Marian im Bett und dachte über Maisies Geständnis nach. Früher einmal hatte sie geglaubt, dass so eine Handlung gegen den Willen Gottes war, der über sie wachte und sie wegen Dingen ermahnte, die sie getan oder unterlassen hatte. Obwohl sie diesen Glauben mittlerweile abgelegt hatte, war doch ein schmuddeliger Rest Schuld zurückgeblieben, ein Gefühl, dass es unanständig und verboten war, so etwas zu tun. Aber Alice Thurrock beschloss, dass ihr derlei Hemmungen fremd waren. Sie war ein praktischer Mensch. Wenn du ein paar Augenblicke intensiver und sorgloser Ekstase erleben wolltest, dann nur zu. Es war dein Körper,

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