Die Frau, die vom Himmel fiel: Roman (German Edition)
durch Lektionen darüber verdrängt wurden, was zu tun war, falls man geschnappt wurde, wie man Verhöre überstand, wie man Befragungen steuerte, wie man auf sich allein gestellt überlebte, voller Angst und Unsicherheit, überzeugt, keine Chance zu haben. Sie kamen sogar mitten in der Nacht zu dir und zerrten dich aus dem Bett und verfrachteten dich in einen Wagen und fuhren mit dir zu einem anderen Haus, wo du in einer kahlen Zelle von anonymen Männern in SD -Uniformen stundenlang verhört wurdest. Sie leuchteten dir mit grellen Lampen ins Gesicht, schrien dich an. Du standest da in deinen Nachtsachen, und sie drohten dir mit Gewalt. Es kursierten Geschichten, dass sie einen sogar nackt auszogen, aber Marian und die einzige andere Frau im Lehrgang beruhigten sich gegenseitig, indem sie solche Gerüchte als Unfug abtaten. Niemals würden sie eine Frau nackt ausziehen. Sie würden vielleicht versuchen, es möglichst realistisch aussehen zu lassen, aber das würden sie niemals tun. Dennoch, die Furcht saß ihnen die ganze Zeit im Nacken.
Die andere Frau hieß Marguerite. Sie wirkte durch und durch englisch und war ein bisschen übereifrig, die Sorte Frau, die man sich gut als Haushälterin oder Gemeindeschwester vorstellen konnte, aber ihr Französisch war tadellos, und sie hatte einen belgischen Akzent und benutzte typisch belgische Redewendungen.
»Ist dir mal eine Frau namens Yvette über den Weg gelaufen?«, fragte Marian. Sie benahmen sich wie Gefängnisinsassen, die Gerüchte austauschten, einander erzählten, was ihnen so alles zu Ohren gekommen war.
»Du meinst diese dumme Ziege, die einen Engländer geheiratet hat?«
»Vielleicht. Ihr Nachname war Coombes.«
»Sie war vor mir in dem Lehrgang in Thame. Wir sind uns kurz begegnet, weil da was mit dem Transport schiefgelaufen war. Hat auf mich einen ziemlich dümmlichen Eindruck gemacht.«
»Wir waren zusammen in Schottland. Ich hab versucht, ihr zu helfen.«
»Ach ja? Hat wohl nicht viel gebracht.«
Lieber Ned , schrieb Marian. Die Ausbildung geht weiter. Merkwürdiger, als Du Dir vorstellen kannst. Bei diesem Tempo kann es passieren, dass der Krieg schon zu Ende ist, bis ich fertig ausgebildet bin. Hab versucht, Dich anzurufen, bin aber nicht durchgekommen. Vielleicht krieg ich ja mal ein bisschen Freizeit …
IV
Der Lehrgang endete mit einem viertägigen Härtetest. »Der Härtetest«, so verkündeten sie unheilvoll, als ginge es um eine Art Feuerprobe, eine Einführung in geheime Glaubensriten. Für ihren Härtetest musste Marian eine eigene Deckidentität erfinden, nach Bristol fahren, sich eine Unterkunft suchen und dann eine Reihe von Aufträgen ausführen. Zuerst musste sie Kontakt zu einem Agenten aufnehmen, der in der Stadt operierte. Sobald das erledigt war, hatte sie die Aufgabe, mithilfe von Boten und toten Briefkästen Leute zu rekrutieren, die ihr Informationen über die Flugzeugherstellung in der Stadt verschaffen könnten. In dieser ganzen Farce – so nannte sie es für sich – sollte die britische Polizei ihr Feind sein. Die Polizei war angeblich darüber informiert, dass eine mutmaßliche feindliche Agentin in der Gegend war, und Marian hatte die Aufgabe, sich nicht erwischen zu lassen, so wie sie später versuchen würde, der Milice und der Gestapo ein Schnippchen zu schlagen.
»Und wenn sie mich schnappen?«
»Bleiben Sie so lange Sie können bei Ihrer Tarngeschichte. Wenn es blöd läuft …«
»Blöder, als die Sache sowieso schon ist, kann es gar nicht mehr werden.«
»Das ist kein Spaß, Sutro. Wir versuchen die Sache möglichst realistisch zu gestalten. In ein paar Wochen wird es real, und dann gibt es keine zweite Chance. Wenn es mit der Polizei richtig brenzlig wird, sagen Sie denen, sie sollen diese Nummer anrufen und nach Colonel Peters fragen. Der wird ihnen erklären, dass Sie eine Agentin in der Ausbildung sind, und Sie dann persönlich abholen. Diese Telefonnummer ist Ihre ›Komm aus dem Gefängnis frei‹-Karte, also gut merken.«
Und damit trat sie durch einen weiteren Spiegel, diesmal hinein in die Person von Alice Thurrock, Absolventin der University of Edinburgh und Französischlehrerin, eine recht unscheinbare Frau von achtundzwanzig, die flache Schuhe und einen schlichten Tweedrock trug und das braune Haar zu einem Knoten gebunden hatte. Sie schminkte sich nicht und hatte eine Hornbrille ein bisschen schief auf der Nase sitzen, sodass es aussah, als würde sie schielen. Sie war bis zum Sommer 1940 in
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