Die Frau, die vom Himmel fiel: Roman (German Edition)
mit dem du tun und lassen konntest, was du wolltest. Du musstest für dich selbst sorgen, weil es sonst niemand tat. Und so lag sie im Bett, ohne die geringsten Gewissensbisse, die Beine gespreizt und die Knie angezogen, und ließ die Finger mit den weichen Falten ihrer Vulva spielen. Sie versuchte, nicht an Clément zu denken. Sie versuchte, an niemanden zu denken außer an sich selbst, dieses Wesen aus Fleisch und Blut und Knochen, aus ungelenken Gliedern und sterilen, aber sensiblen Brüsten, diese sterbliche Hülle, die sich zu einem Höhepunkt streichelte, der ihren Körper aufwühlte und durch ihren Verstand brandete, bis sie friedlich und hundemüde in den Schlaf sank. Aber sie dachte noch immer an Clément.
»Alice Thurrock«, sagte sie am nächsten Morgen zu ihrem Gesicht in dem gesprungenen Spiegel, »du bist eine schamlose Frau.«
V
Am letzten Tag der Übung holten sie sie. Sie kamen mitten in der Nacht, als alle in der Pension schliefen und der Mut auf dem Tiefststand war, ein halbes Dutzend Männer, die gegen die Haustür hämmerten und an der Wirtin vorbeidrängten, die einen schwachen Versuch unternahm, sie aufzuhalten. Sie stürmten in Marians Zimmer, die sich gerade noch rasch ihren Mantel überzog, und schleppten sie vor den Augen von Maisie und der Wirtin nach unten zu einem wartenden Wagen. Von dort fuhren sie mit ihr zu einem unbekannten Haus in der Umgebung von Clifton, wo sie unter grellen Lampen mit Handschellen an einen Stuhl gefesselt und stundenlang verhört wurde.
»Wie heißen Sie?«
»Alice Thurrock.«
»Zweiter Vorname?«
»Eileen.«
»Geburtsdatum.«
»Achtzehnter Oktober neunzehnhundertfünfzehn.«
Sie hatten ihr den Mantel weggenommen, und unter ihrem Nachthemd trug sie nichts. In dem blendenden Licht konnte sie die Männer nicht sehen, aber sie fühlte sich wie vergewaltigt unter ihren Blicken, als wären nicht nur ihre Augen, sondern auch ihre Hände auf ihrem Körper.
»Ich will meinen Mantel«, sagte sie, aber die Männer übergingen die Bitte.
»Wo sind Sie geboren?«
»Oxford, ich bin in Oxford geboren.«
»Was machen Sie in Bristol?«
»Ich will meinen Mantel.«
»Vergessen Sie Ihren Mantel. Was machen Sie in Bristol?«
»Ich habe Arbeit gesucht. Ich war in der WAAF , aber sie haben mich aus gesundheitlichen Gründen entlassen.«
»Sie lügen!«
»Nein, ich lüge nicht. Glauben Sie mir, ich sage die Wahrheit. Meine Eltern sind beide tot, und mein Bruder …«
»Ihr verdammter Bruder interessiert uns nicht. Was haben Sie gestern gemacht? Sie sind in der Stadt rumgelaufen, haben Orte ausgekundschaftet, mit Leuten geredet, versucht, ihnen Informationen zu entlocken. Was haben Sie in Filton gemacht?«
Es war wie beim Tauchen, als würde sie die Luft anhalten und gegen den Wasserauftrieb nach unten in die Tiefe schwimmen, mit angehaltenem Atem, die Lunge kurz vorm Bersten, wohl wissend, dass sie jederzeit durch die Oberfläche an die Luft stoßen, ihnen die Telefonnummer geben konnte, damit sie anriefen. Die »Komm aus dem Gefängnis frei«-Karte.
»Ich habe mich an der Mädchenschule in Filton vorgestellt. Dort wurde eine Französischlehrerin gesucht.«
»Wo haben Sie Französisch gelernt?«
»Ich hab Französisch studiert.«
»Aber Sie waren auch in Frankreich?«
»Oft. Als Kind war ich in den Ferien als Austauschschülerin bei einer französischen Familie.«
»Wie hieß die Familie?«
»Perrier.«
»Wo haben sie gewohnt?«
»In Paris.«
»Wo in Paris?«
»Im fünften Arrondissement. In der Nähe vom Panthéon.«
»Die genaue Adresse?«
»Hören Sie, ich will meinen Mantel haben. Mir ist kalt, und ich will meinen Mantel haben. Sie können mich nicht so behandeln!«
»Wir können Sie behandeln, wie wir wollen. Wir können Sie nackt ausziehen, wenn wir wollen. Also, wie lautet die Adresse?«
Es war wie ein Maskenball, bei dem das Rollenspiel seinen Reiz verloren hat und die Gemüter erhitzt sind. Aber sie spielte mit, wusste sie doch, dass es eines Tages vielleicht kein Spiel mehr wäre und sie keine »Komm aus dem Gefängnis frei«-Karte mehr hätte und die Fragesteller hinter den Lampen Gestapomänner wären.
VI
Miss Atkins blätterte eine Seite um. »Sie haben in Beaulieu offenbar gut abgeschnitten. ›Verhaftung und Verhör durchgestanden. Konsequent bei ihrer Tarngeschichte geblieben, ohne sich zu verraten‹, steht hier.« Sie blickte auf, lächelte freudlos. »Ich werde Ihren unverzüglichen Einsatz befürworten. Sie werden beim
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