Die Frau, die vom Himmel fiel: Roman (German Edition)
wäre doch nett für ihn, mal ein bisschen Familienleben zu schnuppern.« Familienleben. Damit würde sie ihre Mutter herumkriegen.
Am Nachmittag erfuhr sie, wer sie sein sollte. »Anne-Marie Laroche«, so teilte ein ernster, bebrillter Franzose ihr mit. »Anne-Marie, wie Sie selbst vorgeschlagen haben. Laroche, weil der Name verbreitet ist. Sie haben also einen schlichten Namen, einen gewöhnlichen Namen, einen Namen, der ebenso unauffällig ist, wie Sie es sein sollten.« Dann legte er in der Manier eines Bridgespielers, der sein Blatt zeigt, um alle restlichen Stiche zu kassieren, die Ausweise und Lebensmittelkarten dieser fiktiven Frau auf den Tisch.
»Anne-Marie Laroche. Ich mag den Namen.«
Er zuckte mit den Schultern, als wäre es belanglos und nur für Frauen wichtig, den eigenen Namen zu mögen. »Wie Sie sehen, habe ich sie sechsundzwanzig Jahre alt gemacht. Dieselbe Haarfarbe wie Ihre natürlich. Aber ich fürchte, Sie sollten sie nicht ganz so, ähm … attraktiv machen, wie Sie es sind. Gutes Aussehen ist bei einer Agentin nicht von Vorteil – Sie wollen doch nicht, dass die Männer sich nach Ihnen umdrehen.« Er blickte kurz zu ihr hoch, wurde rot und schob die Papiere auf dem Tisch hin und her. »Jetzt müssen Sie Mademoiselle Laroche so gut kennenlernen, wie Sie sich selbst kennen.«
Anschließend wurde sie von einem charmanten jungen Mann namens Marks in der Verwendung von Chiffriercodes unterwiesen. Er stellte sich als »eher Groucho als Karl« vor und fragte sie, ob sie nach ihrem Lehrgang in Beaulieu noch wusste, wie eine doppelte Transpositionschiffre funktionierte, und lachte laut auf, als sie ihm erzählte, welches Gedicht sie als Schlüssel benutzt hatte. »Sie und ein halbes Dutzend andere Agentinnen«, sagte er. Sie brauchte irgendwas Originelles, etwas, das kein deutscher Chiffrierexperte kennen konnte. Hatte sie selbst schon mal Gedichte geschrieben?
»Ein paar.«
»Lassen Sie mal sehen.« Sie nahm einen Bleistift und schrieb ein Gedicht auf, das sie vor Jahren verfasst hatte:
Ich frage mich ob du
Mich jemals
Wirst lieben
Für immer
Oder ob
Auf ewig
Wir bleiben entzweit
Auch wenn uns vielleicht
Die Liebe
Wird niemals
Vereinen
Mein Herz ist
Allezeit
Nur für dich bereit
»Wer war er?«, fragte Marks.
Sie lächelte und wurde leicht rot. »Ein alter Freund. Ich habe seit einer Ewigkeit nichts von ihm gehört. Ich dachte, ich wäre in ihn verliebt, aber es war vielleicht bloß eine Mädchenschwärmerei.«
Er zuckte die Achseln. »Schwärmerei und Liebe, der einzige Unterschied ist die Dauer. Dann wollen wir doch mal sehen, ob er Ihnen Glück bringt.« Er gab ihr eine Übungsaufgabe, um zu testen, wie viele Fehler sie bei der Verwendung ihres Gedichts als Verschlüsselungstext machte, und sie konnte sich ein kleines triumphierendes Lächeln nicht verkneifen, als er keinen einzigen Fehler fand.
»Ganz mein Geschmack«, sagte er anerkennend und schickte sie mit sichtlichem Widerwillen weiter zu ihrem nächsten Termin, diesmal bei einem jüdischen Schneider auf der Clifford Street, der für sie zwei Kostüme und einen Mantel aus französischem Tuch und nach bester französischer Manier anfertigen würde. Die Nähte, die Futterstoffe, der Schnitt, alles war anders, erklärte er, während er murrend und knurrend bei ihr Maß nahm und über die englische Mode schimpfte. Aber es würde einige Zeit dauern. Solche Dinge durfte man nicht überstürzen. Für diese Leute musste ja immer alles gleich am nächsten Morgen fertig sein.
VII
Am Abend fuhr sie mit dem Zug zurück nach Hause. Das ständige Auf und Ab ihrer derzeitigen Existenz brachte sie ganz durcheinander. Eben noch war sie in der Welt der Organisation mit ihren Tricks und Rätseln, ihren Wahrheiten und Halbwahrheiten und glatten Lügen, im nächsten Moment war sie zu Hause, umgeben von den Gewissheiten ihrer Kindheit. Das Einzige, was sie von der einen Welt in die andere mitnahm, war die Fähigkeit zu lügen.
»Ich soll mich auf einen Einsatz im Ausland einstellen«, erklärte sie ihrer Mutter. »Algier, schätze ich, aber vielleicht auch Marokko. Die drücken sich ziemlich vage aus. Ich brauch ein paar Sachen, mit denen ich nicht auffalle, Kleidung und so. Darf ich mal nachsehen, was du so hast? Ach ja, und Benoît kommt uns wahrscheinlich besuchen.«
»Wer ist Benoît?«
»Hab ich dir doch erzählt. Der französische mec , den ich im Lehrgang kennengelernt hab. Er kommt übers Wochenende.«
»Was in aller Welt
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