Die Frau, die vom Himmel fiel: Roman (German Edition)
nach ihrem Koffer aus, aber sie stößt ihn weg.
»Lassen Sie mich in Ruhe!«
Er weicht zurück, lächelt, hebt die Hände in gespielter Kapitulation. »Tut mir leid. Ich wollte bloß helfen, mehr nicht. Paris ist derzeit keine einfache Stadt. Man braucht Freunde. Die Rationierung ist ein Albtraum, und der Schwarzmarkt blüht, aber eine junge Frau wie Sie kann es sich sehr angenehm machen.«
»Was wollen Sie damit sagen? Hören Sie, lassen Sie mich in Frieden, ja?«
»Ich kann Ihnen Arbeit besorgen, wenn Sie wollen. Kein Problem. Sie würden tausend Francs am Tag verdienen.«
»Was zum Teufel soll das heißen?«
»Sie wissen schon. Nichts, was Sie nicht machen möchten. Es sind massenhaft Männer in der Stadt, die sich inbrünstig nach ein bisschen Gesellschaft sehnen.«
»Wofür halten Sie mich eigentlich?«
Er lacht. »Für eine intelligente, anständige junge Frau, die ein bisschen Bargeld braucht. Mehr nicht. Wo kommen Sie her? Normalerweise kann ich das immer sagen, aber nicht bei Ihnen. Jedenfalls sind Sie gebildet.«
»Verschwinden Sie, sofort! Ich brauche keine Arbeit, und schon gar nicht von Ihnen. Lassen Sie mich jetzt in Ruhe, sonst ruf ich die Polizei. Haben Sie verstanden? Ich rufe die Polizei.« Sie sieht sich um, als ob Polizisten in der Nähe wären, um ihr prompt zu Hilfe zu eilen. Aber der quai ist verwaist, Bäume wiegen sich im leichten Wind, ein oder zwei Autos kommen die Straße herunter, Radler strampeln vorbei, Fahrräder, wohin man blickt. Sogar eins von diesen vélotaxis , eine Art Rikscha mit einem mageren Mann, der kräftig in die Pedale tritt, und zwei deutschen Soldaten, die lachend hinter ihm sitzen.
Der Mann zuckt die Achseln. »Hier ist meine Karte. Miessen klingt deutsch, nicht wahr? Aber keine Sorge, es ist holländisch. Vater Holländer, Mutter Französin. Falls Sie mal knapp bei Kasse sind, melden Sie sich einfach.«
Sie nimmt die Karte bloß, um ihn loszuwerden, dann greift sie nach ihrem Koffer und marschiert am Ufer entlang, als hätte sie den Bahnhof mit einem bestimmten Ziel verlassen, als wüsste sie, wohin sie gehen soll, hier am Ufer der Seine zwischen dem Gare d’Austerlitz und dem Gare de Lyon. An der Brücke bleibt sie stehen und blickt sich um. Er ist noch immer da und schaut ihr nach. Was hat das zu bedeuten? Wer ist dieser Mann, der so schnell spricht, ihren Namen kennt, ihr Arbeit anbietet? Ein Zuhälter? Ein Agent? Ein Mann, der junge Frauen ausnutzt, die in die Hauptstadt kommen, der versucht, sie für Gott weiß was für eine Branche anzuwerben. Amüsement für Deutsche wahrscheinlich. Sie schaudert vor Abscheu. Das Wort prostituée schallt ihr durch den Kopf, mit seinem harten Zischlaut. Sie kann jetzt nicht zurück. Er steht zwischen ihr und dem Bahnhof, und sie kann nur weiter so tun, als hätte sie von vornherein beabsichtigt, den Fluss zu überqueren. Also geht sie mit ihrem Koffer über die Brücke, fühlt sich schutzlos so ganz allein zwischen dem gleichgültigen Himmel und dem trüben Fluss. Krähen und Tauben kreisen über ihr wie Raubvögel. Die helle Stadt erstreckt sich um sie herum, besudelt und geschunden, ein einst schönes Artefakt, das durch schlechte Behandlung gelitten hat und jetzt nur noch auf den Flohmarkt gehört, befingert von Kunden auf Schnäppchenjagd. Stromabwärts bietet sich ihr ein vertrauter Anblick, die Kathedrale, die buckelig und mit gespreizten Beinen in der Flussmitte hockt wie ein massiger Arthropode, aber selbst das wirkt schäbig, wie die Erinnerung an einen Traum, einen Traum aus der Kindheit, als man im hellen Licht des Tages seine Ängste verlachen konnte.
Am anderen Ufer klappern Fahrräder vorbei wie ein Schwarm Insekten, Heuschrecken, die die Landschaft kahl gefressen haben. Ein Armeelaster überholt die Radler, hupt. Auf der Ladefläche sitzen deutsche Soldaten. Einer von ihnen fängt ihren Blick auf und winkt ihr fröhlich zu. Sie zuckt die Achseln und wendet sich ab, überquert die Straße, sobald der Laster vorbei ist, läuft im Zickzack zwischen den Fahrrädern hindurch. Wohin soll sie jetzt gehen? Irgendwo in der Nähe rattert ein Zug vorbei. Sie kann ihn hören, aber nicht sehen: eine Métrolinie, unsichtbar unter der Brücke. Aber wo ist die Station? Der Zug taucht von unten auf und fährt auf die nächste Brücke, überquert den Fluss. Wo kann man in den Zug einsteigen? Sie ist wütend und fühlt sich unfähig, eine réfugiée , die ziellos durch die große Stadt streift und sich vor den
Weitere Kostenlose Bücher