Die Frau, die vom Himmel fiel: Roman (German Edition)
sie die denn sonst benutzen? Für den Transport von Soldaten? Wohl kaum. Es ist also reine Unwirtschaftlichkeit. Oder Missgunst. Ja, Missgunst könnte es sein; sie gönnen uns unsere Bequemlichkeiten nicht.«
Die Männer brummen irgendwas und blicken zum Fenster hinaus, versuchen, sie zu ignorieren. An einer Unterhaltung teilzunehmen, die Kritik am System übt, ist gefährlich. Leute lauschen und machen Meldung und befördern sich selbst die gewundene Karriereleiter hinauf, indem sie andere denunzieren. Doch die Frau scheint das nicht zu kümmern. Der Zug ruckelt und schwankt, und sie meckert weiter: »Die Juden sind schuld an der Misere, in der wir stecken. Erst recht dieser Blum. Ein Jude und Kommunist. Was soll man auch erwarten?«
Alice holt ihr Buch heraus und liest. In Montauban und Brive steigen Leute zu, bis das Abteil fast voll ist. Die Zeit dilatiert, und der Raum schrumpft. Sie wird von einem dicken Mann, der einen schweren grauen Mantel trägt und einen klobigen Koffer dabeihat, gegen das Fenster gequetscht. Mit großer Anstrengung wuchtet er den Koffer auf die Gepäckablage über den Sitzen.
»Kann da auch nichts passieren?«, fragt sie.
»Natürlich nicht. Was soll denn passieren?«
»Er könnte runterfallen.«
»Da passiert nichts.«
Der Zug rattert weiter durch die Nacht, hält an und fährt wieder los, wird ohne ersichtlichen Grund langsam, bleibt mal kürzer, mal länger einfach stehen, mitten in der Landschaft. Bei geschlossenem Rouleau wird das Abteil nur durch ein schwaches blaues Licht erhellt, das kaum zum Lesen reicht. Wenn der Zug hält, machen sie das Licht aus, ziehen das Rouleau hoch und wischen die beschlagenen Scheiben frei. Doch in der Dunkelheit draußen ist nichts zu erkennen.
Alice schläft unruhig. Ihr Kopf sinkt mit dem Schwanken des Waggons hin und her. Als sie einmal wach wird, liegt sie mit der Wange auf der Schulter ihres Nachbarn. Er ist so nett gewesen, sie nicht zu stören. »Entschuldigung«, sagt sie verlegen. »Tut mir furchtbar leid.« Dann schweigt sie. Das ist aus Frankreich geworden: ein Land, in dem Fremde untereinander schweigen, weil Gespräche gefährlich sein könnten. Man hält besser den Mund.
Am frühen Morgen rumpelt der Zug über eine Brücke und kommt quietschend in einem verdunkelten Bahnhof zum Stehen. Ein gewaltiger Seufzer Dampf wird ausgestoßen. »Vierzon«, sagt jemand und späht durch die Scheibe. Türen knallen. Auf dem Bahnsteig erklingen deutsche Stimmen, und dann wird es laut auf dem Gang. Soldaten kommen polternd an Bord. Das Geräusch von aufgleitenden Türen, Gebrüll. Im Abteil blicken sich die Leute direkter an als auf der ganzen Fahrt, Blicke ohne jedes Mitgefühl. Wer wird weshalb geschnappt werden? Der dicke Mann neben Alice schwitzt und zappelt, seine Finger flattern wie Meerestiere, die in eine launische Strömung geraten sind. Alice spürt die Kristalle in ihrem Innern, anklagende Finger, die auf ihren Uterus zeigen.
Und dann auf einmal ein lauter Aufschrei, Rufe, das Getrappel von Schritten und ein Kreischen, das die Skala menschlicher Töne übersteigt, etwas Animalisches, in dem dennoch erkennbare Worte mitschwingen: Frankreich! Scheiße! Schweine! Gefolgt von dem Geräusch rennender Schritte und einem einzigen Gewehrschuss, der laut, dumpf und endgültig ist.
»Kommunisten«, beschließt die alte Frau.
Alice späht zum Fenster hinaus. Im Licht von Lampen kann sie sehen, wie Gestalten sich bewegen, irgendetwas schleifen. »Jemand ist tot.« Sie blickt die alte Frau an. »Kommunist oder nicht, er ist tot.« Sie bereut die Bemerkung sofort. So etwas verstößt gegen alles, was ihr beigebracht wurde: dass sie nichts sagen soll, was irgendjemanden hellhörig machen könnte, dass sie sich nicht in Auseinandersetzungen oder Diskussionen einmischen soll, dass Interesselosigkeit die beste Tarnung ist. Pour vivre heureux vivons cachés . So lautete das Motto an der Schule in Beaulieu.
»Aber da haben wir’s doch«, fährt die alte Frau mit einem nachsichtigen Lächeln fort, als hätte diese junge Frau das Offensichtliche übersehen. »Die glauben an nichts, also was soll’s?«
Alice blickt weg. Leute drängeln sich auf dem Gang vorbei, und ein deutscher Offizier späht ins Abteil. Er gehört zur Feldgendarmerie, wie sie an der silbernen Plakette erkennt, die er an einer Kette um den Hals trägt, bloß Militärpolizei, die zwar mit Respekt zu behandeln, aber nicht so zu fürchten ist wie manch andere Einheiten. Ihre Blicke
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