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Die Frau, die vom Himmel fiel: Roman (German Edition)

Die Frau, die vom Himmel fiel: Roman (German Edition)

Titel: Die Frau, die vom Himmel fiel: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Simon Mawer
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treffen sich, und einen Moment lang sehen sie einander an wie Wesen aus völlig verschiedenen Lebensräumen: ein Fisch, der aus der Tiefe eines Teichs einen Angler am Ufer in Augenschein nimmt. Dann nickt der Mann und geht weiter. Kurz darauf gleitet die Tür auf, und ein junger Mann betritt das Abteil, setzt sich ihr gegenüber auf den einzigen leeren Platz. Als er ihren Blick auffängt, lächelt er gequält. Sie reagiert nicht und steckt die Nase wieder in ihr Buch, um nur ja nicht in ein Gespräch verwickelt zu werden.
    Die Soldaten steigen aus den Waggons. Türen knallen, und der Zug, alt und arthritisch, beugt die Gelenke und setzt sich in Bewegung. »Was ist passiert?«, fragt jemand.
    Der Zugestiegene zuckt die Achseln.
    »Na, wenigstens mussten wir nicht lange warten«, bemerkt einer der Beamten.
    »Eine kleine Unannehmlichkeit«, stimmt der junge Mann zu. Sein Lächeln ist schwach und herablassend, als wüsste er mehr über Unannehmlichkeiten als sonst jemand.
    Später steht der junge Mann auf, entschuldigt sich und steigt über Beine und Füße zur Tür. Vielleicht will er bloß zur Toilette oder sich die Beine vertreten oder eine Zigarette rauchen; aber Alice ist argwöhnisch. Sein leerer Platz wirkt so verdächtig und bedrohlich wie seine Gegenwart. Als er wiederkommt, scheint er genau wie vorher: jung, anonym, gleichgültig. Und doch wird sie den Gedanken nicht los, dass er sie beobachtet, wissend lächelt, wenn ihre Blicke sich treffen, sich fragt, wer sie ist und was sie macht. Der Schaffner kommt, und es entsteht ein kurzes Durcheinander, als er zuerst die Fahrkarten und dann die Ausweise sehen will. Bei der ungeschickten Herumreicherei fällt Alice’ Ausweis zu Boden. Sie bückt sich, um ihn aufzuheben, doch der junge Mann ist schneller, hebt ihn aus dem Wust von Füßen, und als er sich aufrichtet, ist er mit dem Gesicht ganz dicht an ihrem, und sie kann irgendeine Seife an seiner Haut riechen. Er ist glatt rasiert, hat aber am Kinn einen blauen Bartschatten, wie der Blaustich von gehärtetem Stahl.
    »Bitte«, sagt er und reicht ihr den Ausweis. Sie nimmt ihn dankbar und steckt ihn wieder in ihre Handtasche. Draußen vor dem Abteilfenster zieht sich ein dünner Streifen Morgendämmerung über den Himmel, wie eine blutende, nässende Wunde. Ein Wirrwarr von Nebengleisen kommt in Sicht.
    »Juvisy«, sagt der junge Mann. »Wir sind fast da.«

PARIS
    I
    Gare d’Austerlitz, früher Morgen. Die Feldgendarmerie hat am Anfang des Bahnsteigs eine barrage mit aufgebockten Tischen errichtet, wo Soldaten das Gepäck von Reisenden durchsuchen. Warteschlangen haben sich gebildet. Hin und wieder werden Leute durchgewinkt – Offizielle, Männer in Uniform, eine Mutter mit ihren Kindern –, doch alle anderen müssen sich anstellen. Auch Alice, die jetzt die Kristalle tief in ihrem Schoß spürt.
    In Beaulieu machte eine Geschichte die Runde: Ein Agent, der ein Funkgerät in einem Koffer transportierte, geriet in eine solche Kontrolle. Als er eine Frau mit einem Baby auf der Hüfte und zwei kleinen Kindern im Schlepptau bemerkte, hob er kurzerhand das jüngere der beiden auf den Arm. »Ich helfe Ihnen«, sagte er zu der geplagten Mutter und wurde prompt mit seiner neu erworbenen Familie durch den Kontrollpunkt gewinkt, ohne durchsucht zu werden.
    Ein solcher Geniestreich bietet sich Alice hier nicht an, und so schlurft sie einfach mit der Schlange nach vorn, bis sie an der Reihe ist, ihren Koffer auf den Tisch stellt und ihn öffnet. Sie steht teilnahmslos dabei, während der Polizist ihre Kleidung durchstöbert, und wartet darauf, dass er die Radioröhren findet. Ihr Herz schlägt laut – das muss er doch hören –, aber im Kopf ist sie irgendwie ganz ruhig, als ob sie kurz vor einem Auftritt steht und die Anspannung braucht, um ihre Rolle gut zu spielen.
    »Was ist das?«
    Der Lärm im Bahnhof ist allgegenwärtig, hallt vom Dach wider, ein überwältigender Gegensatz zu dem Leben auf dem Lande bei Lussac. Selbst Toulouse nimmt sich im Vergleich hierzu wie eine Kleinstadt aus.
    »Die Dinger? Ach so, die sind für einen Freund.« Sie zuckt die Achseln. »Sein Radio ist kaputt, und er hört so gern den Großdeutschen Rundfunk, aber er kann einfach keine Ersatzteile auftreiben. Ich hab in Toulouse welche gefunden. Ich hoffe bloß, es sind die richtigen.« Sie lächelt ihn an. Er ist jung, so jung wie sie, und da er männlich ist, sieht er noch jünger aus, weil die Veränderungen, die mit Männern passieren –

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