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Die Frau, die vom Himmel fiel: Roman (German Edition)

Die Frau, die vom Himmel fiel: Roman (German Edition)

Titel: Die Frau, die vom Himmel fiel: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Simon Mawer
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die Gesichtszüge werden strenger, die Kinnpartie härter, raue Stoppeln sprießen –, bei ihm noch nicht passiert sind. Er ist ein Junge, mehr nicht.
    Der Junge dreht und wendet die Röhren in der Hand, blickt dann zu ihr hoch und erwidert ihr Lächeln. »Gut«, befindet er, versucht es dann auf Französisch: »Ça va. Vous pouvoir aller.«
    »Pardon?«
    »Allez«, wiederholt er. »Allez!«
    Sie spürt, wie sich ein kleines Triumphgefühl in ihr regt, tief in ihrem Inneren, wo die Kristalle sind. Natürlich darf sie gehen. Wieso sollte er sie festhalten wollen? Sie lächelt ihn an, nimmt ihren Koffer und strebt zu den Toiletten. In der Kabine zieht sie die Unterhose herunter, rafft den Rock hoch und hockt sich hin, tastet mit dem Finger nach dem Päckchen mit den Kristallen und fördert es wieder zutage. Dann öffnet sie den Koffer, wickelt die Kristalle in ein Tuch, ordnet ihre Kleidung und geht hinaus. Benoît hätte sich amüsiert.
    Der fast menschenleere Bahnhofsvorplatz glänzt unter einem grauen Himmel, dem Himmel von Paris, von dem sie geträumt hat, den sie sich vorgestellt, gefürchtet, nahezu vergessen hat, und jetzt breitet er sich wie eine Decke über ihre Kindheitserinnerungen an diese Stadt. Geh zielstrebig, aber ohne zu hasten. Du solltest immer wissen, wohin du willst und warum. Immer eine Geschichte als Erklärung parat haben. Aber sie hat keine Geschichte parat, die erklärt, was sie hier macht, sie kann höchstens sagen, dass sie sich umschauen will, dass sie die Stadt sehen will, zum ersten Mal seit Jahren. Also überquert sie die Straße und geht ans Seine-Ufer, steht dann einfach da und blickt hinaus über den Fluss, erinnert sich an London, an den Tag, als sie nach dem ersten Vorstellungsgespräch ans Ufer der Themse gegangen ist, gleich neben der Hungerford Bridge, über die die Züge ratterten. Damals stellte sie sich genau diesen Moment vor, wie sie vom quai aus über die träge dahinfließende Seine schauen würde, malte sich aus, wie dramatisch es wäre, hier zu stehen. Aber die Wirklichkeit ist, dass sie sich klein fühlt angesichts dieses breiten Flusses und des weiten Himmels, klein und unbedeutend. Was auch immer sie zu tun vermag, es ist nichts. Und doch spürt sie erneut das Gewicht von zwei Steinen in den Händen und riecht den beißenden Gestank von Funken und hört Neds Stimme: Mehr ist nicht erforderlich. Du hast gerade London von der Landkarte radiert und aus der Geschichte gesprengt. In Luft aufgelöst .
    Eine Stimme hinter ihr sagt: »Da sind Sie ja wieder.«
    Sie dreht sich um. Es ist der junge Mann aus dem Zug, der ihr ab Vierzon gegenübergesessen hat. Er ist ihr gefolgt. Er hat sich rasiert und trägt ein frisches Hemd – das fällt ihr auf –, und er sieht recht nett aus, obwohl er nicht nett ist, weil in diesen Zeiten keine zufällige Begegnung nett ist, weil die ganze leere Stadt um sie herumliegt und nichts daran nett ist, denn Paris ist eine Bedrohung ungeahnten Ausmaßes und unbekannter Größe, und jeder darin ist ein möglicher Feind. Sie wendet sich wieder dem Fluss zu. »Was wollen Sie?«
    »Ihr Name ist Anne-Marie, nicht?«
    Sie spürt eine plötzliche Leere in sich, als hätten sich ihre Innereien, jetzt, wo die Kristalle nicht mehr in ihr sind, in eine dünne, heimtückische Flüssigkeit aufgelöst. »Woher wissen Sie das?«
    »Laroche. Anne-Marie Laroche. Ihr Ausweis ist Ihnen runtergefallen. Ich hätte Sie auf der Fahrt gern angesprochen, aber bei den vielen Leuten im Abteil … Und an der barrage wollte ich Ihren munteren jungen Soldaten nicht ablenken, als er Ihnen so tief in die Augen geschaut hat.«
    »Ist das ein Flirtversuch? Denn wenn ja, ich bin nicht interessiert.«
    Er lacht. Es liegt etwas Vertrautes in seinem Lachen – eine Leichtigkeit, eine Aufrichtigkeit, ähnlich wie bei Benoît. »Ich würde Sie bloß gern auf einen Kaffee einladen. Oder zum Frühstück. Haben Sie gefrühstückt? Hier in der Nähe ist ein Café. Ich kenne den Besitzer, und vielleicht kann ich ihn überreden, uns richtigen Kaffee zu servieren. Wie wär’s?« Er redet schnell, seine Worte übergehen mühelos ihren Wunsch, in Ruhe gelassen zu werden. »Mein Name ist übrigens Julius. Julius Miessen. Julius, Jules, ganz wie Sie wollen. Ich fand, Sie sahen ein bisschen verloren aus in der großen Stadt, und …«
    »Ich bin ganz und gar nicht verloren.«
    »Umso besser. Aber den Koffer können Sie nicht weit schleppen. Lassen Sie mich Ihnen helfen.« Er streckt die Hand

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