Die Frau, die vom Himmel fiel: Roman (German Edition)
Aber ich hatte gehofft, auch Madeleine wiederzusehen.«
Er zuckt die Achseln. »In Paris ist es zurzeit nicht besonders angenehm. Sie ist nach Annecy gefahren. Mit meiner Frau.«
Sie lässt sich nichts anmerken. Das hat sie gelernt: auf jedwede Offenbarung mit scheinbarer Gleichgültigkeit zu reagieren. Eine Pause entsteht, während Kaffee eingeschenkt wird, ehe sie eine Antwort über die Lippen bringt. »Dann bist du also verheiratet?«
»Allerdings. Und ich habe eine sechs Monate alte Tochter.«
»Glückwunsch.«
»Danke. Ein Jammer, dass Augustine nicht da ist und du sie nicht kennenlernen kannst.«
»Deine Tochter?«
»Meine Frau.« Er bietet ihr eine Zigarette an, und nachdem er sich selbst eine angezündet hat, beobachtet er sie durch den Rauch. Sie schlägt die Beine übereinander und dreht sich auf dem Sofa zur Seite, erinnert sich an seinen Blick, wenn sie das im Wohnzimmer zu Hause in Genf machte, vor Jahren, wenn seine Augen zu ihren Knien glitten. Sie wurde dann immer rot. »Das Baby heißt Rachel.«
»Und du bist nicht mitgefahren.«
»Sie sind dort in Sicherheit, und meine Arbeit ist hier.«
»Ich hatte befürchtet, sie hätten dich vielleicht zum STO rangezogen oder so. Dich in irgendein Arbeitslager in Deutschland geschickt.«
Schwaches Lachen. »Zum Glück bin ich für so etwas zu alt. Aber was ist mit dir, Marian? Was um alles in der Welt machst du hier?«
»Ich war die ganze Zeit im Südwesten, auf einem Bauernhof …«
»Aber deine Eltern …«
»Sind in London.«
»Bist du nicht mit ihnen nach England gegangen?« Seine Augen ruhen auf ihren Lippen, als würde er von ihnen ablesen, was sie sagt, und das leise Beben der Täuschung dort sehen.
»Ich war eine Weile in England, bin dann aber wieder zurück in die Schweiz …« Sie erfindet die Geschichte spontan, improvisiert, schmückt aus, prüft die Lügen im Voraus auf Schwachstellen, ehe sie sie auftischt. Genau davor ist sie in der Ausbildung gewarnt worden. Erfinde niemals eine Tarngeschichte aus dem Stegreif. Versuche niemals, zu bluffen. Sei immer, immer auf alles gefasst. »Das Leben im Untergrund hat nichts Glitzerndes«, sagte einer der Ausbilder. »Es ist fade und methodisch, und genau das müsst ihr auch sein. Fade, leise, methodisch.« Und was macht sie jetzt? Sie ist albern und kapriziös und stellt sich geradezu zur Schau. »Ich hab die doppelte Staatsbürgerschaft, weißt du. Von meiner Mutter. Ich bin für einige Zeit zurück nach Genf, um zu studieren, aber es hat mich immer nach Frankreich gezogen, und deshalb bin ich letztes Jahr wieder hergekommen, und« – sie zuckt die Achseln – »seitdem bin ich im Land. Wo mein Herz ist.«
Glaubt er ihr? Ein Anflug von Panik durchläuft sie. Sie kennt diesen Mann nicht. Sie hat ihn einmal angehimmelt, aber richtig gekannt hat sie ihn nie, damals nicht und heute auch nicht. »Das klingt ja alles höchst patriotisch«, sagt er. »Obwohl ich zugeben muss, ich hab dich nie als Französin gesehen. Eher als Engländerin, mit einer Spur französischem Elan. Ein traditionelles Gericht, das mit einem ungewöhnlichen Gewürz serviert wird.«
»Ich fühle mich als Französin. Ich hab mich immer als Französin gefühlt, besonders in England.«
»Und jetzt bist du nach Paris gekommen …«
»Um eine Freundin zu besuchen. Sie soll in Schwierigkeiten stecken. Hör mal, ich muss wirklich etwas schlafen. Ich bin hundemüde.«
»Natürlich, natürlich.« Plötzlich ist er übertrieben besorgt um ihr Wohl, entschuldigt sich, so unsensibel gewesen zu sein. »Marie wird dir dein Zimmer zeigen. Du musst unbedingt ein Nickerchen machen.« Nickerchen, sagt er, ein Wort aus ihrer Kindheit, in dem Erinnerungen an Familientage in Genf und Annecy mitschwingen. Er muss es damals von ihrem Vater oder vielleicht ihrer Mutter gehört haben. Es ist eines von den typischen Wörtern, die in ihrer Familie benutzt werden.
»Ich weck dich dann, wenn das Abendessen fertig ist.«
Das Schlafzimmer ist wie das Wohnzimmer, voller Anklänge an eine frühere Generation. Es gibt schwere Samtvorhänge und verschnörkelte Belle-Époque-Möbel und eine Ormolu-Uhr auf dem Kaminsims, die gebieterisch vor sich hin tickt. Und Beweise dafür, dass Madeleine unlängst noch da war: ihre Kleider im Schrank, ihre Unterwäsche in einer der Schubladen und auf der Kommode zwei Haarbürsten, in deren Borsten noch blonde Haare stecken. Ein Foto von ihr und ihrer Mutter in einem silbernen Rahmen lächelt beruhigend die
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