Die Frau, die vom Himmel fiel: Roman (German Edition)
jetzt merkt. Er hat etwas Feminines an sich, trotz der maskulinen Kinnpartie, in die er eingebettet ist, etwas Schrulliges und Ironisches. »Komm«, sagt er und legt ihr eine Hand auf den Rücken, um sie zu dirigieren. »Komm in den Salon. Lass den Koffer hier. Marie, die übrigens gemeint hat, du seist ein wenig défraîchie – wie würdest du das übersetzen? Unfrisch? Ich finde, du siehst bezaubernd aus wie eh und je, bloß ein bisschen zerzaust – jedenfalls, Marie wird sich darum kümmern. Möchtest du eine Tasse Kaffee? Ich kann dir sogar richtigen anbieten, ob du’s glaubst oder nicht. Hättest du gern welchen? Wenn ich mich recht entsinne, konnte Äffchen Kaffee nicht ausstehen, aber ich vermute, das hat sich geändert, hab ich recht?«
Äffchen. Der Klang ihres Kosenamens, ein Name, den niemand benutzt, der nicht zu ihrer Familie gehört, trifft sie unvorbereitet. Plötzlich liegt Cléments Arm um ihre Schultern, und sie weint, ein beängstigendes Gefühl von Hilflosigkeit, das sie verabscheut, sobald sie es empfindet. »Tut mir leid«, sagt sie durch einen Tränenschleier, und das kleine, harte Bruchstück ihrer Persönlichkeit, das sich Alice nennt oder Anne-Marie Laroche oder wie auch immer, nur nicht Marian oder, zum Henker noch mal, Äffchen, betrachtet verächtlich dieses larmoyante Geschöpf, das sich da in Cléments Arme schmiegt und Trost findet in dem Gefühl seines Pullovers an ihrer Wange und der Berührung seiner Hand an ihrem Kopf.
»Weshalb weinst du denn?«
»Nur so«, sagt sie an seiner Brust. »Bloß aus Erleichterung, mehr nicht. Ich bin seit gestern unterwegs. Ich bin erschöpft.«
Er lässt sie los, langsam, als fürchte er, sie könnte hinfallen. »Natürlich«, sagt er. »Natürlich. Ich sag Marie, sie soll sofort ein Zimmer für dich herrichten.«
»Eigentlich müsste ich eher mal ins Bad, bitte. Ich …«
»Das Badezimmer. Aber sicher. Wie gedankenlos von mir. Ich zeig dir, wo es ist … und in der Zwischenzeit kann Marie uns richtigen Kaffee kochen und sogar an ihren Geheimvorrat Zucker gehen – o ja, ich weiß, sie hat welchen versteckt. Gibt’s in England Zucker? Wahrscheinlich.«
Sobald sie sicher im Badezimmer ist, schließt sie die Tür ab und hockt sich hin, um die Kristalle herauszuholen. Es ist jetzt schmerzhaft, ein scharfes Brennen, als würde etwas Brühheißes aus ihr rausgezogen. Sie entfernt die Kondomhülle von der Watte mit den Kristallen und steckt das Päckchen in ihre Handtasche. Dann pinkelt sie, wäscht sich die Hände und schaut in den Spiegel. Ein müdes, abgespanntes Gesicht blickt sie an, die Augen verweint, die Haut gerötet. Sie bespritzt sich mit kaltem Wasser, um ihrem Äußeren wieder etwas Leben zu verleihen, trocknet sich dann mit einem Handtuch ab, das weich und weiß ist, anders als die dünnen grauen Lappen, die sie in Plasonne benutzt hat.
Gibt’s in England Zucker? Wahrscheinlich .
Ein kleiner Schneesturm aus Fragen fegt ihr durch den Kopf, Fragen nach Logik und Logistik, nach Familie und Freunden und den ungleichmäßigen Verschiebungen der Loyalität. Einen Moment lang bemüht sie sich, wieder Alice zu sein, die versucht, ihre nächsten Schritte zu planen, sich der Gefahr bewusst ist. Aber sie weiß, dass diese Vernunft nur die paar Minuten anhalten wird, die sie ungestört ist, bis sie Clément erneut gegenübertritt und sie all die Erinnerungen an ihre Kindheit und Jugend unter sich begraben werden wie eine sanfte, kühle Schneewehe. Sie kämmt sich das Haar, bis es halbwegs ordentlich aussieht, klopft den Rock ab, streicht die Jacke glatt und geht hinaus in die Diele.
Er wartet im Salon. Es ist ein langer, überladener und altmodischer Raum, dessen drei bodenlange Fenster auf den Platz hinausgehen. Die Einrichtung verströmt eine Atmosphäre verblichener Eleganz, als ob der Raum in Erinnerung an eine ältere Generation bewahrt worden wäre. Vor diesem Hintergrund wirkt Clément modern, eine saloppe Gestalt mit offenem Hemdkragen, die einen hellblauen Pullover trägt, eine tadellos gebügelte Hose und glänzend gewienerte Schuhe. So ganz anders als Ned. Er steht auf, blickt sie mit der gleichen leichten Belustigung an wie früher, als wäre sie im Begriff, etwas Vergnügliches und Absurdes zu tun. »Besser. Eine Metamorphose. Von der Raupe zum Schmetterling.«
Sie lacht bemüht. »Wo ist Madeleine? Ich dachte, Madeleine wäre da.«
»Bin ich so ein dürftiger Ersatz?«
»Du bist überhaupt kein Ersatz. Du bist Clément.
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