Die Frau, die vom Himmel fiel: Roman (German Edition)
einen ganz normalen Menschen.«
»War ich das?«
Er blickt sie an, ohne zu lächeln, als versuchte er, die richtige Antwort zu finden. »Du warst sehr viel mehr als das.«
Wird sie rot? Vielleicht kommt das vom Wein. »Weißt du noch, wie wir damals oben in Megève waren?«, sagt sie. »Im Chalet, nur wir vier?«
»Als Madeleine mit den Skiern schnurstracks über die Hütte gefahren ist …«
»… und auf der andere Seite in einer Schneewehe gelandet ist …«
»… und dann die Tür aufging und jemand rauskam und fragte, was ihr denn einfiele, das wäre schließlich Privatbesitz, und ob es ihr gefallen würde, wenn jemand über ihr Dach fahren und in ihrem Garten landen würde?«
Die Erinnerungen kreisen wie Raubtiere, kurz bevor sie sich auf eine Beute stürzen. »Und unser Segeltörn auf dem See«, sagt Marian. »Weißt du noch? Ned fühlte sich nicht gut, und Madeleine ist bei ihm geblieben, und dann sind wir zwei allein los.«
Und ob er das noch weiß, natürlich. Sie kann es in seiner Miene erkennen. Er erinnert sich, wie sie das Boot hinausgeschoben haben, wie sie beide bis zur Hüfte ins Wasser gewatet sind und sich dann lachend an Bord geworfen haben. Er erinnert sich genau.
»Wann war das?«
»Du weißt ganz genau, wann das war. Im Sommer 1938 .«
Es war die Art von Abenteuer, wo vertraute Orte unwirklich wurden, durchdrungen von der Besonderheit dieses heißen Sommertages, geblendet von der grellen Sonne auf dem Wasser. Sie beide, schlank und braun und lachend. Mit nackten Füßen und nackten Beinen, einander anschubsend und sich aus Spaß streitend, bis er ihre Hände packte, damit sie aufhörte, ihn zu schlagen, der Altersunterschied zwischen ihnen irgendwie kleiner, sodass sie sich älter fühlte, als sie war, und er jünger wirkte. Sie steuerten das kleine Boot an einer Landzunge ans Ufer, wo Schilf war und eine kleine Bucht und ein Stück Strand. »Wo sind wir?«, fragte sie, als könnten sie sich verirrt haben.
»Wer weiß?«, sagte er und half ihr aus dem Boot, hielt ihre Hand dann fest, während sie den Strand hochgingen. Sie hatte nie zuvor die Hand eines Mannes gehalten, außer bei ihrem Vater und Ned. Die von Freundinnen, klar. Aber nie die Hand eines Mannes. Die Geste kam ihr äußerst bedeutsam vor: Er mag mich, dachte sie. Er würde nicht meine Hand halten, wenn er mich nicht mögen würde.
Mögen . Ein mehrdeutiges Wort. Erst recht auf Französisch. Aimer . Ihr wurde die Uneindeutigkeit von Wörtern bewusst, ihre Unsicherheit und Ungenauigkeit.
Hinter dem Strand lag ein kleiner Wald, und durch das Blattwerk erspähten sie das Dach eines versteckten Hauses. Sie schlichen sich zu einer Gartenmauer und kletterten auf Felsbrocken, um über die Mauer zu spähen, hinter der ein Rasen lag und Blumenbeete und eine Trauerweide. Irgendwo bellte ein Hund, aber das Haus wirkte verlassen, die blinden Fenster spiegelten den Himmel und die Berge. Clément hatte einen Arm um ihre Taille gelegt, um sie zu stützen. Daran erinnerte sie sich deutlicher als an den Garten. An Cléments Arm um ihren Körper. Und dann drehte er sie zu sich herum, sein Gesicht so nah, dass sie die Wärme seiner Haut spüren konnte.
Sie trinkt einen Schluck Wein und schmeckt das, was sie seiner Erklärung nach darin entdecken sollte – einen Hauch Zigarre, eine Spur Schokolade, eine Andeutung von Zedernholz –, während sie den Mann an ihrer Seite betrachtet, den sie kennt, aber auch nicht kennt. »Es kommt mir fast so vor, als wäre es anderen Leuten passiert.«
»Dabei ist es erst ein paar Jahre her. Sechs.«
»Fünf. Du warst aus Paris gekommen, und ich war über die Ferien zu Hause …« Sie fängt seinen Blick auf und hält ihn bewusst fest. »Mich hatte bis dahin noch nie jemand geküsst.«
»Ich hab mich kaum getraut, dich anzufassen. Ich wollte dir keine Angst machen.«
»Ich war erst sechzehn, Clément. Das erste Mal, dass ich so geküsst wurde. Und ich war verlegen. Gott, war ich verlegen!«
»Du hast älter gewirkt.« Plötzlich grinst er entwaffnend. »Du hast dich älter angefühlt.«
Sie schüttelt den Kopf, erinnert sich, wie sie von den Felsen herunterkletterten und sich vor die Mauer setzten. Er küsste sie, und sie hatte die Augen geschlossen, weil man das so machte, weil die Mädchen das sagten, wenn sie darüber sprachen – Du schließt die Augen und gibst dich hin –, und seine Hand war auf ihrem Knie, und sie legte ihre Hand auf seine. Die Uneindeutigkeit von Gesten. Taten so
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