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Die Frau, die vom Himmel fiel: Roman (German Edition)

Die Frau, die vom Himmel fiel: Roman (German Edition)

Titel: Die Frau, die vom Himmel fiel: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Simon Mawer
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eines seiner Teilchen.
    Sie liegt im Bett, hellwach. Sie hört, wie er sich in der Wohnung bewegt: eine Tür, die geschlossen wird, laufendes Wasser, ein Scheppern in den alten Rohren.
    Sie erinnert sich. Die atemlose Aufregung, als sie in den Ferien nach Hause kam und hoffte, er wäre wieder aus Paris zurück, wie er in seinen Briefen versprochen hatte. Aber sie hatten nur ein paar gestohlene Momente allein miteinander, Zeitfragmente, wenn die Familien zusammen waren, wenige Minuten, in denen sie ihm Dinge sagen konnte, die ansonsten unaussprechlich waren. »Ein Quantenteilchen kann an zwei Orten gleichzeitig sein«, erklärte er, und sie lachte, weil es so töricht klang. » Ich kann an zwei Orten gleichzeitig sein«, entgegnete sie schlagfertig. »Ich kann im Schlafsaal im Internat allein in meinem Bett liegen, und ich kann gleichzeitig in deinen Armen liegen.«
    »Der meint es nicht ernst mit dir«, sagte eine ihrer Schulfreundinnen, als sie ihr von ihm erzählte. Sie wusste, dass die Freundin recht hatte, aber sie wusste auch, dass sie sich irrte: Es war möglich, zwei widersprüchliche Vorstellungen gleichzeitig zu hegen, genau wie es einem Teilchen möglich war, gleichzeitig zwei widersprüchliche Zustände anzunehmen, wie Clément behauptete. Eine Welle und ein Teilchen, beides gleichzeitig, oder so ähnlich. Sie nannte ihren eigenen Zustand Marians Superpositionsgesetz und war begeistert von der Vorstellung, dass es ihm ebenso erging.
    Entdeckung lässt die Wellenfunktion kollabieren.
    Sie lauscht, wie er über den Flur geht und kurz vor ihrer Tür stehen bleibt. Dann geht er weiter, und sie kann hören, wie sich die Tür zu seinem Schlafzimmer öffnet und schließt, und dann sind in der Wohnung keine anderen Laute mehr zu vernehmen als das Ächzen und Knarren, wenn ein Haus in der Nacht abkühlt. Aber von draußen dringen Geräusche herein – ein Auto jagt durch eine Straße in der Nähe; jemand rennt unten am Haus vorbei; eine Tür knallt, und jemand ruft irgendwas; und spät in der Nacht wird sie aus dem Nebel des Schlafes gerissen durch etwas, das sie für Schüsse in der Ferne hält.
    V
    Am nächsten Morgen sieht alles anders aus. Die Drohungen des Vortages sind zurückgewichen wie das Meer bei Ebbe. Sie werden ganz sicher wiederkommen, aber fürs Erste ist es still und friedlich, die raue See weit weg. Draußen ist das gestrige Grau-in-Grau ersetzt worden durch einen einzigartig blauen Himmel, so sanft wie Angorawolle.
    Sie sucht ihre Sachen zusammen und schleicht den Flur hinunter ins Bad, um sich zu waschen. Zurück im Schutz ihres Zimmers, ist sie halb angezogen und kämmt sich gerade, als es an der Tür klopft.
    »Herein.«
    Auf seinem Gesicht liegt ein Ausdruck, den sie von früher kennt, teils zerknirscht, teils amüsiert. »Ich wollte mich entschuldigen«, sagt er. »Du hattest recht.«
    »Womit?«
    »Damit, dass wir bestimmte Themen am nächsten Morgen bereuen werden.«
    »Wir hatten zu viel getrunken.«
    »Oder vielleicht nicht genug.«
    Sie zuckt die Achseln und widmet sich wieder ihren Haaren, ist sich seiner Augen bewusst, die auf ihr ruhen, spürt den Kitzel des Nacktseins, obwohl sie es nicht ist. »Ich hab’s eilig, und du hältst mich auf.«
    »Ich schaue nur zu.«
    »Das ist das Problem.«
    »Wo willst du hin?«
    »Diese Freundin besuchen. Hab ich doch gesagt.«
    »Aber du kommst doch heute Nachmittag zurück, oder? Du läufst nicht wieder weg?«
    »Wieder?«
    »Du bist nach England weggelaufen.«
    »Ich bin nicht weggelaufen. Ich wurde hingeschickt.«
    »Du bist auch hierher geschickt worden, nicht?«
    »Ich hätte Nein sagen können. Es war meine Entscheidung, herzukommen.«
    »Und du gehst nicht, ohne mir vorher Bescheid zu sagen?«
    »Nein.« Die Frisur ist fertig. Sie sieht ihn wieder an. »Ich bin jetzt erwachsen, Clément, nicht mehr dein kleines Mädchen.«
    »Ich hab dich nie für ein kleines Mädchen gehalten. Du bist mir immer absurd erwachsen vorgekommen.« Er kommt ins Zimmer und gibt ihr einen sittsamen Kuss auf die Wange. »Ich seh dich dann, wenn ich aus dem Labor komme. Wir unternehmen was. Sonst fällt uns noch die Decke auf den Kopf. Wie wär’s mit Theater? Ich kann Karten besorgen.«
    »Theater?«
    »Was könnte typischer für Paris sein, als ins Theater zu gehen?«
    Das Theater scheint ihr gefährlich, zu öffentlich. »Vielleicht …«
    Aber sie spricht den Satz nicht zu Ende, und er wartet auch nicht ab. »Dann also abgemacht. Ich muss jetzt los, aber ich

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