Die Frau, die zu viel fühlte - Roman
wie Julie. »Natürlich«, fuhr sie fort, »hielt das nicht lange an. Sie langweilte sich zu Tode und fuhr wieder ab mit der Bemerkung, sie würde sich demnächst entscheiden und sie hätte schon vor Jahren aufs Land ziehen sollen, um in meiner Nähe zu sein. Natürlich war kein Wort davon ernst gemeint.«
So hatte Julie uns in diesen Jahren immer wieder zueinandergebracht, wenn auch bei weitem nicht genug. Wie hätte es auch anders sein können? Für mich waren es hektische Jahre, und wenn ich Hester anrief, um ihr von Julie zu erzählen, sagte sie, sie fühle sich genauso hilflos wie ich. Da sonst nicht viel hinzuzufügen war, kamen die Gespräche meist zu einem schnellen Ende.
Jetzt erinnerte sie mich daran. Sie hatte inzwischen das Gasfeuer angezündet, beugte sich vor und starrte hinein. Wieder ließen die Flammen, die über ihr Gesicht tanzten, sie aussehen, als hätte sie großen Kummer.
»Worüber hätte sie mit mir reden können? Natürlich bat sie mich um Geld, und ich schickte ihr immer welches. Einmal sagte sie, ich müsse wohl denken, dass Geld das Einzige sei, was sie von mir wolle. Sie beharrte darauf, dass dies nicht der Grund für ihre beiden Besuche war, sondern ›nur, damit wir wieder beisammen sein können‹. Eine Weile machte es Spaß, die Vergangenheit, unsere Kindheit, das alles, wobei wir es irgendwie schafften, jede Erwähnung von Vater und Mutter zu vermeiden. Sie kicherte unentwegt, nicht?«
Ich nickte und sagte ihr, dass sie auch mich besucht hätte, nicht, um mich um Geld oder Rat zu fragen, sondern als wollte sie einfach wieder einmal Teil einer Familie sein.
Und so erinnerten wir uns an diese Zeit, ließen Julie wiederauferstehen in diesem bequemen, aber unpersönlichen Zimmer, in dem der Feuerschein über Hesters Gesicht tanzte, wenn sie sich vorbeugte, um die Hände auf den Bauch zu pressen – sie tat es, um den Schmerz zu lindern, wie ich inzwischen wusste. Je länger wir über Julie sprachen, umso mehr schien sich die Kälte zu verflüchtigen, und diese alten, großartigen Bilder wurden lebendig – eine aufgewühlte See und ein Kirchturm, der über eine fruchtbare, menschenleere Landschaft herrschte. Hester gab mir eine Flasche Rotwein, die ich öffnen sollte, und nur ein Weinglas.
»Nicht für mich. Gegen die verdammten Vorschriften.«
Wir unterbrachen das Gespräch, als sie in die Küche ging, um das Abendessen zu machen. Als sie mit unseren Tellern zurückkehrte, sagte sie: »Als Julie hier war, bestand sie darauf, das gesamte Kochen zu übernehmen und auch den Abwasch. Sie redete, als würden wir bald zusammenwohnen. Sie schaute sich sogar die Stellenangebote im Lokalblatt an.«
»War sie eine gute Köchin?«
»Julie? Ach du meine Güte, nein. Sie hatte es immer so eilig, ließ Teller fallen. Kochte die Sachen entweder zu viel oder zu wenig. Nein, das ist nicht ganz gerecht. Und sie präsentierte alles immer so stolz und mit großer Geste, wie eine junge Kellnerin, die eben erst angefangen hat. Meine Güte, und ihr Lächeln! Sie war sehr schön, nicht?«
»Sie hatte so eine Art, dass sie immer glücklich wirkte«, sagte ich. »Wenn sie es gar nicht war. Als wollte sie sagen, so sollte die Welt sein. Und es würde mich nicht wundern, wenn sie dadurch auch andere glücklich machte.«
Hester legte Messer und Gabel zusammen und schob ihren Teller weg. »Man verliert den Appetit, das ist eine der Nebenwirkungen … Dass sie immer glücklich wirken wollte. «
»Das stimmt. Es war einfach, sich an sie als Kind zu erinnern, wie sie auf Weihnachten, auf ihren Geburtstag wartete und sich Geschenke erhoffte.«
Hester ging wieder zu ihrem Lehnsessel und ließ mich alleine zu Ende essen. Sie drehte sich mir zu und lächelte. »Sie bat nicht gern um Hilfe, aber sie hatte auch keine Scheu davor.«
»Das trifft es ziemlich genau«, sagte ich. »›Ach, ich bin ja so eine Last, Johnny.‹ Ich höre ihre Stimme noch genau.«
Während wir den Tisch abräumten und das Geschirr wuschen, erinnerten wir uns an diese oder jene Episode und versuchten dabei, die Ungeduld in Schach zu halten, die wir zu jener Zeit empfunden hatten. Zumindest ich. Auch Unmut. »Sie konnte einen auf die Palme bringen«, sagten wir irgendwann zur selben Zeit. Mir kam in den Sinn, und vielleicht auch Hester, dass wir sie verscheucht hatten, weil unser Unwille immer offensichtlicher wurde. Zumindest meiner. Wie hätte es auch anders sein können? Etwas in dieser Richtung sagte ich zu Hester.
»Na ja, du
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