Die Frau, die zu viel fühlte - Roman
Gute-Nacht-Geschichte wartete, diese Erwartung, in der sie so leicht Trost fand, die aber so oft enttäuscht wurde. Und dann die Tränen.
So versuchte ich, sie zu der Zeit zu sehen, mit Liebe und Verständnis. Aber es gab zu vieles, was mir nicht gefiel. Diese Leute, mit denen sie sich abgab, ihre Gedankenlosigkeit, ihre absolute Selbstgefälligkeit. Und dass ich bei ihr einen hohen Grad an Promiskuität annehmen musste. Nein, ich wusste es. Die Art, wie sie Männer ansah. Ihre Unfähigkeit, nein zu sagen. Zweimal kam sie zu mir und bat mich um Geld für eine Abtreibung. Ich fragte sie jedes Mal, wer der Vater sei, und sie gestand mir unter Tränen, dass sie es nicht genau wisse. Sie weinte oft, wenn sie zu mir kommen musste, damit ich ihr aus der Patsche half. Auch dann sah ich das Kind in ihr, ihre weit aufgerissenen, in Tränen schwimmenden Augen. Für gewöhnlich war es ihr Vater, der sie zum Weinen brachte: wenn er zornig wurde, wenn er nicht am erwarteten Tag zurückkehrte, all die Abschiede. Doch jetzt war es Verzweiflung und Scham. Mehr als einmal sagte ich ihr: »So kannst du nicht weitermachen, Julie.« Und sie nickte, und ihre spröden, zusammengepressten Lippen zeigten Selbsttadel und Entschlossenheit. Aber Julie, das war eine Liebe zum Leben, eine Sehnsucht nach Flucht. Und da war auch ihre Güte. Wie lautete dieses Zitat über die Guten, die nichts wissen und sich nicht selbst verzeihen können?
Es ging immer so weiter. Sie wurde verhaftet nicht nur wegen Fahrens unter Alkohol, sondern auch, weil sie überhaupt keinen Führerschein hatte, denn bei der Prüfung war sie dreimal durchgefallen. Ich zahlte eine saftige Strafe und war nur froh, dass sie nicht ins Gefängnis musste. Dem Gefängnis entging sie auch nur knapp, als es bei einer Party eine Razzia gab und mehrere Personen, darunter auch Julie, wegen Drogenbesitzes verhaftet wurden. Sie wurde freigesprochen, aber zwei ihrer Freunde saßen drei Monate ein. Sie schwor mir, dass sie nie »harte Drogen« genommen hätte, und ich glaubte ihr. Und tatsächlich glaube ich nicht, dass sie mich je angelogen hat – wieder diese Augen, diese arglose Unschuld trotz all der Gier nach Ablenkung, darin lag ein Sehnen, eine andere Begierde, vielleicht nach Einfachheit oder einem friedfertigen Königreich, das von Freundlichkeit und Vergebung regiert wird. Was ich vor fünf Jahren, wenn auch in sentimentaler Stimmung, über sie geschrieben hatte, war eine unter allem liegende Konstante in ihrem Leben: die Großzügigkeit ihres Charakters, die Bereitschaft, bei allen Menschen nur das Beste anzunehmen, die Weigerung, schlecht über sie zu sprechen. Ich bin mir sicher, sie verlieh Geld, ohne sich je zu überlegen, ob es zurückgezahlt werden würde oder wie schnell diese Außenstände dem zugerechnet werden mussten, was sie von Hester und mir »borgte«.
Und während Hester und ich am letzten Abend meines Besuches zusammensaßen und gemeinsam ins Flammenspiel des Gasfeuers starrten, kam viel von all diesen Gefühlen an die Oberfläche, eine Mischung aus Liebe und Verwirrung und Verärgerung. Und auch das Bedauern, dass ein so schöner und freier Geist wie Julie in diese halbseidenen Tiefen hinabgesunken war. Ich wusste nicht, ob sie Hester von den Abtreibungen erzählt hatte, aber Hester seufzte schwer, als der Abend sich zum Ende neigte, und erzählte mir, das sei das einzige Mal gewesen, dass sie sich geweigert hatte, ihr Geld zu geben, und gleichzeitig gewusst hatte, dass sie sich an mich wenden würde. Vielleicht zum ersten Mal hatte Julie mich damals also angelogen, denn sie hatte gesagt, sie wolle Hester nicht fragen und hoffe, ich würde ihr nichts sagen.
Hester hatte nur eine schwache Tischlampe eingeschaltet, das Zimmer wurde deshalb vorwiegend vom Gasfeuer erhellt, dessen Schatten uns im Dämmerlicht schwach umtanzten. Hin und wieder schauten wir einander an, aber es war, als könnten unsere Blicke sich in dem flackernden Halbdunkel nicht begegnen. Und jetzt, doch das sprachen wir nie direkt aus, war unsere Schwester vom Angesicht der Erde verschwunden, könnte tot sein, sofern wir das je erfahren würden.
Gegen Ende sagte Hester: »Es geht darum, wie wir uns an sie erinnern, unwillkürlich, wenn wir die Augen schließen, um zu schlafen, oder eine Landschaft betrachten oder glauben, sie gesehen zu haben, oder an ein Ereignis aus unserer Kindheit denken müssen. Dein Bericht hat das bei mir ausgelöst. Es wäre mir fast lieber, er hätte es nicht
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