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Die Frau, die zu viel fühlte - Roman

Die Frau, die zu viel fühlte - Roman

Titel: Die Frau, die zu viel fühlte - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Charles Chadwick
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warst der Leidtragende. Du warst greifbar. Mich rief sie allerdings oft an. War vermutlich ziemlich kurz angebunden mit ihr.«
    Es war nicht nur das Geld. Die nicht bezahlten Mieten und Nebenkosten, das abgestellte Telefon. Die nicht zurückgezahlten Darlehen, die sie anderen gegeben hatte. Sie hatte immer wieder Sekretärinnenjobs, lebte aber weit über ihre Verhältnisse. Sie schien jeden Abend in Clubs gegangen zu sein, und wenn ich sie sah, war sie immer sehr modisch gekleidet, und die Farbe ihrer Haare wechselte so oft wie ihre Garderobe.
    Es gab eine »Szene«, in der sie sich bewegte. Ein Kollege, oder sollte ich sagen »Rivale«, zeigte mir einmal ein Foto von ihr in einem dieser Promi-und-Klatsch-Magazine. Sie hing am Arm eines schnittlauchhaarigen, anzüglich grinsenden Kleinaristokraten, der zu der Zeit in einen Skandal um Oldtimer verwickelt war. »Bewegt sich in besseren Kreisen, deine Schwester«, sagte mein Kollege mit seinem eigenen anzüglichen Grinsen.
    Zu der Zeit versuchte ich, mir einen Ruf aufzubauen, und Julie war dabei nicht gut für mich. Das redete ich mir zumindest ein. Tatsächlich waren die Leute meistens toleranter, als man manchmal zu glauben wagte. Nach Mutters Tod hatten wir etwas Geld geerbt, und ich fragte mich, was Julie mit ihrem Anteil gemacht hatte. Zumindest, bis sie mir erklärte, dass sie zusammen mit einer Freundin eine überteuerte Wohnung gekauft und diese Freundin es geschafft hätte, sich beim Wiederverkauf einen Großteil des Erlöses unter den Nagel zu reißen. Damals bezahlte ich einen Anwalt, der aber absolut nichts ausrichten konnte.
    Es gab eine Unmenge diverser »Freunde«. Hin und wieder sah ich sie auf irgendeiner Party, einmal in Ascot, wohin ich gefahren war, um Hintergrundinformationen für einen Artikel über das alte Geld und die Neureichen zu bekommen. Julies Hut, eine Art Fruchtsalat in einem Weidenkorb, konnte mit den anderen durchaus mithalten. Die Gruppe, in der sie sich aufhielt, war bester Laune, und so oft ich zu ihr hinüberschaute, lachte sie laut und mit zurückgeworfenem Kopf. Mich sah sie nicht. Strahlende junge Dinger. Großstadtgesocks. Angesagte Promis. Wie ich sie verabscheute! Zu der Zeit arbeitete ich an meinem ersten Buch über Gründe und Ursprünge der politischen, sozialen und moralischen Degeneration und die Verbindungen zwischen ihnen. Es ging um die grässliche Gier und die Protzerei des Ganzen. Schon damals warnte ich vor der Boni-Kultur und der Korruption im Bankgewerbe, die uns den jetzigen Tiefpunkt beschert haben, zusammen mit Abgeordneten, die krumme Dinger drehten – ganz zu schweigen von den Zusatzvergütungen, die sich Beamte selbst gewähren, weil sie ihre Arbeit gut gemacht haben. Das lief alles damals schon.
    Meine Artikel und politischen Kommentare beschäftigten sich damit auf eine Art, die mir den Ruf eines »jungen Jeremias« einbrachten, eines Schwarzsehers mit einem Talent für selbstgerechte Entrüstung, die mir nicht zustand. Wie Hester schon gesagt hatte, als sie meinen Bericht las, neigte ich tatsächlich ein wenig zum Schwadronieren – ich verlangte Gehör, obwohl es mir eigentlich, das sagte ich mir zumindest manchmal selber, nur um einen Ruf ging, der mir Kreditwürdigkeit einbrachte. Inzwischen würde man meine damaligen Auslassungen als viel zu tolerant betrachten. Gier ist Gier und braucht keine Begründung … Genug davon. Ich schreibe über Julie, und was daran schmerzt, ist die Tatsache, dass sie gut in diese Welt passte, sie war beliebt, sie war, wie diese böswillige Frau an diesem Abend zu mir sagte, »immer im Mittelpunkt«.
    Und ja, wie Hester sagte, sie war wunderschön. Ich will es Ihnen beschreiben: Zuerst achtet man auf die Augen, und Julies Augen hielten einen fest, auch wenn sie vom Lachen zugekniffen und verdeckt waren. Sie waren von einem lebhaften Hellblau und strahlten, als hätte sie eben Augentropfen hineingeträufelt. Es waren Vaters Augen, und sie hatte sich sogar sein Zwinkern angewöhnt. Ihre Lippen hatten eine gewisse Sprödigkeit, aber ihr Mund war fast immer in Bewegung, er blieb offen, wenn sie zuhörte, bereit, sofort zu reagieren, zu lächeln oder zu lachen. Die Sprödigkeit wirkte, als würde sie im Rückblick sich selber missbilligen. Aber diese langen, welligen goldenen Haare, diese rastlosen, lebhaften blauen Augen! Wie sie umherhuschten, nach Vergnügen, Neuigkeiten, Weltflucht suchten. Oft sah ich das Kind in ihr, das Kind, das auf Vaters Rückkehr oder eine

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