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Die Frau, die zu viel fühlte - Roman

Die Frau, die zu viel fühlte - Roman

Titel: Die Frau, die zu viel fühlte - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Charles Chadwick
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ausreichend, mehr als ausreichend. Und Julie saß quasi zwischen uns, schaute von einem zum anderen, als würde sie plötzlich sagen: Und, wollt ihr jetzt auch etwas von mir erfahren?
    Ich stand auf, um mich für die Nacht zu verabschieden. Der nächste Tag würde mein letzter sein, und ich sagte ihr, dass ich, wie heute, am frühen Nachmittag zu ihr kommen würde. Ich fragte mich, worüber wir noch reden könnten. Wir könnten unsere Meinungen austauschen über die Regierung, die Probleme der Welt, die Sozialpolitik. Ich hatte bereits allgemeinere Themen angesprochen, und es war mir schwergefallen, ihr nicht im Einzelnen zu sagen, was ich über diese Dinge dachte. Wie konnte es auch anders sein, da ich doch mein Leben damit verbrachte? Was konnte sie anderes erwarten, als meinen Ergüssen lauschen zu dürfen? Dabei hatte ich das alles doch schon in dieser oder jener Kolumne, diesem oder jenem Artikel gesagt. Nein, wir waren uns so nahegekommen, wie wir es noch nie gewesen waren. Wenigstens eine meiner Schwestern hatte ich gefunden. Und ich möchte mir gerne vorstellen, dass sie auch einen Bruder gefunden hatte.
    Und als sie mir an diesem Abend gute Nacht sagte, umarmte sie mich, schob mich weg und sagte, mich noch immer haltend: »Gute Nacht, mein lange verlorener Bruder.«
    Ich legte ihr kurz die Hand an die Wange und sagte: »Es hat mich sehr gefreut, deine Bekanntschaft zu machen.«

IV
    Am folgenden Nachmittag verspätete ich mich. Den ganzen Vormittag war das Wetter wechselhaft gewesen, ich kam mit meinem Buch gut voran, und unseren gewohnten Spaziergang konnten wir erst machen, als der Himmel sich aufklarte und es einer dieser warmen, sommerähnlichen Tage wurde, die Ende September, Anfang Oktober den Winter zu verhöhnen scheinen und ihn so lange wie möglich hinauszögern. Das Funkeln der Regentropfen auf den sich färbenden Blättern, die glänzenden Äcker und die »hochgetürmten Wolken«, die späte Wärme in der Luft, das alles brachte mich auf die Frage, ob ich eines Tages mein himmelloses, betonstumpfes Stadtleben aufgeben würde, um an einem so friedlichen Ort zu wohnen, die Wolken zu betrachten und den Vögeln zu lauschen.
    In dieser Gemütsverfassung war ich, als Hester und ich den öffentlichen Fußweg zu dem Wäldchen auf der Hügelkuppe hochgingen. Wir sprachen wenig, aber an ihrem Schweigen merkte ich, dass sie mir etwas zu sagen hatte. Am folgenden Montag würde sie für eine Operation ins Krankenhaus gehen.
    »Wollte es dir schon die ganze Zeit sagen. Dieser Klumpen in meinem Bauch muss raus. Chemotherapie wirkt nur bis zu einem gewissen Punkt.«
    Im ersten Augenblick war ich verärgert. »Mein Gott, Hester, du hättest was sagen …«
    »Wo wir so eine schöne Zeit miteinander hatten? Also komm, Johnny, ein bisschen was von einem Schatten hätte es schon geworfen.«
    »Ich komme her. Natürlich komme ich her und besuche dich, bin für dich da …«
    Sie war auf dem schmalen Weg vor mir hergegangen, und jetzt blieb sie stehen, drehte sich um und hob den Zeigefinger. »Du tust absolut nichts dergleichen. Auch wenn du gleich nebenan wohnen würdest, ich will keinen Besuch. Völlig fertig im Bett liegen und sich in Selbstmitleid suhlen. Es gibt jede Menge Leute, die sich um dies und das kümmern werden. Nein danke, Johnny.«
    Als wir den Weg wieder hinuntergingen, war sie hinter mir. »Aber …«, setzte ich erneut an.
    »Die Prognose ist gut. Ziemlich wahrscheinlich, dass es zu einer vollständigen Genesung kommt.« Schweigend gingen wir weiter bis zur Straße. »Jetzt brauchen wir unbedingt eine Tasse Tee, und ich habe Hefebrötchen gekauft. Ich habe vergessen, ob du Hefebrötchen magst.«
    »Als hättest du es je gewusst, Hester!«
    Und so saßen wir an ihrem Tisch und aßen Hefebrötchen. Ich fragte nach ihrer Operation, wie lange sie im Krankenhaus bleiben müsse, und meinte, dass ihre alten Leute sie vermissen würden, vor allem Henry.
    Es war, als hätte sie mich nicht gehört. Sie hatte eine Stille in sich, eine Resignation ohne jede Spur von Angst oder Besorgnis. Es war einfach das Leben, das seinen gewohnten Gang ging. Sprechen wollte sie lieber über Julie.
    »Ich weiß nicht recht, wie ich das sagen soll, Johnny. Aber diese Sache hat mich daran erinnert, dass unsere Tage gezählt sind. Wir können nicht ewig so weitermachen und uns nur fragen, was wohl aus ihr geworden ist.«
    Sie hielt inne. Ich nickte. Ich wünschte mir, sie würde ihre Brille abnehmen, damit ich ihre Augen

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