Die Frau, die zu viel fühlte - Roman
unvergrößert sehen könnte. Sie starrte mich an, wie sie es bei meiner Ankunft getan hatte, mit einem Ausdruck, der wie Feindseligkeit wirkte. Aber es war einfach nur Überzeugtheit. Man konnte sich leicht vorstellen, wie sie im Lauf der Jahre mit einem Leser oder einer Angestellten mal ein Wörtchen zu reden hatte, wenn etwas nicht so lief, wie es sollte.
»Du bist ein beschäftigter Mann, das weiß ich, ein vielbeschäftigter. Aber ich glaube, wir sollten, du solltest herausfinden, was aus ihr geworden ist.«
»Leichter gesagt als getan.«
»Ich weiß. Das weiß ich wirklich. Aber es könnte alles Mögliche sein. Vielleicht einfach, dass sie tot ist. Manchmal bin ich sehr wütend auf sie. Wie konnte sie es nur zulassen, dass sie nur noch in unserer Vorstellung lebt? Mein Gott, was man sich alles vorstellen kann.«
Ich nickte wieder. Ich hatte mir Julie auf viele Arten vorgestellt, aber vielleicht auf nicht so viele wie Hester. Denn hatte ich nicht versucht, sie vollständig aus meinen Gedanken zu verdrängen? Und es auch geschafft: diese flüchtige Präsenz, dieser belanglose Geist.
Hesters Hand zitterte ein wenig, und sie stellte die Tasse ab. »Das war so verdammt rücksichtslos von ihr. Nicht ein Wort …«
»Aber gewundert haben wir uns schon. Über die Scham. Sie schämte sich zu sehr. Sie war so eine Nervensäge. Sie wollte Auslöschung. Also, ich weiß nicht, Hester.«
»Das ist es ja gerade. Wir wissen es nicht. Bitte versuche, was herauszufinden, Johnny. Ich habe dich nie um etwas gebeten …«
Ich wollte das Thema wechseln, die Verpflichtung abschütteln. »Hast du je gedacht, du hättest sie flüchtig irgendwo gesehen? Als wollte sie herausfinden, was aus uns geworden ist, ob es uns gutgeht.«
Sie hob die Augenbrauen, und ich erzählte ihr von den Gelegenheiten, da ich sie, wenn auch nur für einen Augenblick, gesehen zu haben meinte, sie einmal sogar gerufen und ihr gewinkt hatte.
»Du also auch. Ja, ich saß genau dort, wo du jetzt sitzt, als ich dachte, sie würde am Haus vorbeigehen. Es wurde bereits dunkel, und die Gestalt hatte dunkle Haare unter einem leuchtend gelben Tuch, und sie trug einen langen Mantel, einen grünen, glaube ich. Ich ging zum Fenster, aber die Gestalt war verschwunden. Es gab auch andere Gelegenheiten. Am hinteren Ende eines Supermarkts. Auf der anderen Seite einer belebten Straße. Einmal sogar in der Bibliothek. Eine Frau mit dem Rücken zu mir vor den Regalen neben dem Eingang, die sich zur Seite drehte. Ich dachte, sie würde sich umdrehen, und ich hatte schon die Arme ausgebreitet, um sie zu umarmen. Doch dann war sie genauso plötzlich wieder verschwunden. Und natürlich gab es auch die Stimmfetzen, die man zufällig erhascht, die scheinbar bekannte Gestalt auf der Straße, die sich dann als jemand ganz anderer erweist.«
Sie hatte das Gasfeuer nicht angezündet, und es war kühl im Zimmer. Sie ging in die Küche, um noch eine Kanne Tee zu kochen. Als sie zurückkam, schwelgten wir in Erinnerungen an Julie, vor allem an die letzten Jahre vor ihrem Verschwinden. Es war so lange her, dass es sinnlos erschien, ihr Leben damals zu rekapitulieren. Warum sollten wir uns an eine Katastrophe nach der anderen erinnern, die wir bereits zu der Zeit am Telefon besprochen hatten? Es war, als würden wir versuchen, sie wieder zum Leben zu erwecken, oder als könnte irgendwo in alldem ein Hinweis liegen, was aus ihr geworden war. Wir redeten so, als sollte unsere Liebe für sie den Groll darüber, dass sie uns so grausam im Stich gelassen hatte, jetzt bei weitem überwiegen. Was ich vor fünf Jahren geschrieben hatte, zeugte eindeutig davon. Ich hatte es Hester gezeigt, nachdem ich ihr meinen Bericht über den letzten Ausflug ans Meer gegeben hatte.
»Diese letzte Begegnung«, sagte sie jetzt, »über die du geschrieben hast. Sie war so verletzlich, nicht? Was sagte diese schreckliche Frau: eine leichte Beute. Sie war so liebenswürdig. Und diese ganze Scham und die Traurigkeit …«
»Sie kam dich ein- oder zweimal besuchen, nicht?«
»O ja, das zweite Mal hier im Haus. Anfangs drehte sich alles nur darum, das Stadtleben aufzugeben und auf dem Land zu leben, was für ein wunderbares, ruhiges Leben ich doch führe ohne Stress und Belastungen und so weiter und so fort … Du kannst sie dir vorstellen, oder? Überschäumend eben. Es muss doch hier Sekretariatsjobs für mich geben und auch ein paar nette Männer …«
Hester sprach atemlos und klang einen Augenblick lang
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