Die Frau, die zu viel fühlte - Roman
getan.« Sie hielt inne, als wartete sie auf meine Antwort. »Was ist mit dir? Was ist deine stärkste Erinnerung?«
»Na ja, ich hab es dir doch gezeigt. Dieses letzte Mittagessen miteinander. Das Schlimmste daran, ich meine, was in der Erinnerung heraussticht, ist, dass ich auf meine Uhr geschaut habe und sie dachte, ich, der vielbeschäftigte, erfolgreiche Kerl, hätte bereits mehr als genug Zeit mit ihr verbracht. Ich hasse diese Erinnerung. Dieser entschuldigende Blick von ihr, obwohl sie bereits mit den Tränen kämpfte.«
Hester nickte. »Ich habe ihr auch die kalte Schulter gezeigt, weißt du.«
»Wenn sie jetzt in dieses Zimmer kommen würde, ich glaube, ich würde ihr als Allererstes sagen, dass ich an diesem Tag auf meine Uhr schaute, weil das zu der Zeit eine nervöse Angewohnheit von mir war. Ich wollte dieses Mittagessen nicht so beenden. Was würdest du sagen?«
»Ach, ganz einfach. Wenn sie je bei mir einziehen sollte und wir gemeinsam alt werden, würde ich gern das Kochen übernehmen, wenn sie nichts dagegen hätte.«
Ich stand auf und sagte, ich würde morgen Vormittag auf dem Weg zum Bahnhof noch kurz bei ihr vorbeischauen. Sie bot mir an, mich hinzufahren, aber ich bestand darauf, ein Taxi zu nehmen. Am Tag darauf würde sie ins Krankenhaus gehen, und ich sagte, dass ich sie, wenn alles vorüber wäre, wenigstens einmal anrufen würde.
»Nach einer angemessenen Zeitspanne.« Sie stand auf, kam auf mich zu und umfasste meine Ellbogen. »Gib mir drei oder vier Tage. Es wird alles gut, ich weiß es einfach. Ich habe noch ein paar gute Jahre vor mir.«
»Natürlich, das weiß ich.«
Sie wies auf das Zimmer. »Noch mehr davon und von dieser wunderbaren, abwechslungsreichen Landschaft. Und natürlich die Bücher. Ein reiches Leben. Rede ich mir zumindest ein.«
Sie zuckte die Achseln, als könnte man das Thema Julie nun als abgeschlossen betrachten, als hätte es keinen Sinn, noch mehr über sie zu sagen. Wir mussten uns einfach damit abfinden, dass wir nichts wussten. Julie konnte jetzt in unser Unterbewusstsein zurückkehren, um von Zeit zu Zeit aufzutauchen und wieder zu verschwinden wie ein Geist. Genau so wollte sie es. Sie hatte ein Leben gewählt, das mit uns nichts zu tun hatte. Als ich die Tür öffnete, ertappte ich mich bei dem Gedanken, dass sie von uns auch nicht mehr verdiente, denn wir hatten getan, was wir konnten – sogar dass sie Zeit in Anspruch genommen hatte, die Hester und ich einander hätten widmen sollen, um mit dem Verstreichen der Jahre oder womit auch immer ins Reine zu kommen, um über unsere Mutter zu reden, die wir kaum eines Wortes gewürdigt hatten. Was uns betrübte, hatte viel, viel mehr mit der Erinnerung an sie zu tun. So zuckte auch ich die Achseln, und dann trat Hester einen Schritt zurück und schaute mir tief in die Augen. Da sie mit dem Rücken zum Feuer stand, war ihr Gesicht im Schatten, aber sehr klar. Wie auch ihre Stimme.
»Du musst sie finden, Johnny. Du musst Julie für uns finden.«
»Ich weiß nicht so recht …«, setzte ich an.
»Bitte. Ich werde die Kraft nicht mehr haben …«
Wir sagten nichts mehr, und wir umarmten uns auch nicht, wie wir es die letzten Tage getan hatten. Es war ein kalter, windiger Abend, der bereits den Winter andeutete. Seit ich zu Hesters Haus gegangen war, waren Blätter auf die Straße gefallen, und auch jetzt rieselten sie im Schein des Mondes.
»Versuche, glücklich zu sein, Julie«, murmelte ich, ein Nachhall meiner letzten Worte bei unserem letzten gemeinsamen Mittagessen.
Zwei Tage nach Hesters Operation sprach ich mit ihr. Es war alles gut verlaufen. Sie schien guter Dinge zu sein und meinte, sie habe die Tage mit mir sehr genossen. Henry sei jetzt im Heim, erzählte sie, und es graue ihr davor, ihn dort zu besuchen. Die Zimmer seien ziemlich winzig, sagte sie, und bestimmt gebe es nicht genügend Platz für all seine Erinnerungsstücke. Im kalten Licht des Tages wirkten unsere Erinnerungen an Julie, die wir in dem dämmerig flackernden Zimmer hatten aufleben lassen, weit weg, sogar überflüssig. Doch als ich ihr schließlich versprach, sie bald wieder zu besuchen, und schon den Hörer auflegen wollte, sagte sie: »Ich hoffe, du hast schon angefangen.«
Im ersten Augenblick wusste ich nicht, was sie meinte. Vielleicht das Buch, das ich als Nächstes schreiben wollte, wie ich ihr erzählt hatte. Sie wartete meine Antwort nicht ab.
»Gestern war ich mir ganz sicher, sie in einer Gruppe von
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