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Die Frau, die zu viel fühlte - Roman

Die Frau, die zu viel fühlte - Roman

Titel: Die Frau, die zu viel fühlte - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Charles Chadwick
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Angehörigen, die den Gang entlangkamen, gesehen zu haben. Ich dachte, sie kommt mich besuchen. Das war vielleicht ein Augenblick. Ich suchte nach ihr, als die Leute sich um die Betten verteilten, aber sie war nicht mehr da.«
    »Wunderbar, dass alles so gut gelaufen ist. Ich komme dich bald besuchen, und viele Grüße an Henry«, war meine einzige Erwiderung.

V
    Nach meiner Rückkehr erfuhr ich, dass meine Kolumne in Zukunft nur noch einmal wöchentlich erscheinen würde – dafür ungefähr doppelt so lang und eher ein »Denkstück« als ein täglicher Kommentar. So hatte ich mehr Zeit, mir zu überlegen, was ich in Bezug auf Julie unternehmen sollte. Ich habe Hester jeden Tag angerufen, und ihre Operation scheint ein uneingeschränkter Erfolg gewesen zu sein. Hinter unseren Worten klingt unsere Freude darüber mit, dass wir nach Jahren routinemäßiger Telefonanrufe einander neu kennengelernt haben. Doch mehr denn je liegt Julies Schatten zwischen uns. Sie hat mich nicht gefragt, was ich unternehme, um sie aufzuspüren, denn wenn ich irgendetwas zu berichten hätte, hätte ich es ihr gesagt.
    Doch gestern, nachdem ich mich verabschiedet hatte und schon auflegen wollte, sagte sie: »Ich habe nachgedacht. Ich kann nicht anders, aber manchmal glaube ich, sie muss uns gehasst haben, weil sie uns so im Ungewissen lässt.«
    »Das können wir nicht wissen, oder? Man kann nicht anders, als das Schlimmste zu befürchten.«
    »Aber du versuchst es herauszufinden, nicht?«
    »Ich denke darüber nach , Hester.«
    Und das mache ich auch, aber wo soll ich anfangen? Im Lauf der Jahre haben mich die Leute immer wieder gefragt, was eigentlich aus meiner Schwester geworden sei, mit unterschiedlichen prämodifizierenden Adjektiven wie »lebhaft, lustig, temperamentvoll«, und oft fügen sie hinzu, wie amüsant es mit ihr gewesen sei, manchmal mit einem Seitenblick kaum verhüllten Mitleids. Ich kann schlecht antworten, dass ich nicht den geringsten Schimmer habe, deshalb murmle ich etwas in der Richtung, dass sie nach Kanada ausgewandert sei. Bei all diesem unwiderstehlichen Tratsch und den so schnell wie möglich zu erwidernden Sottisen bin ich meistens mit einem beiläufigen Nicken durchgekommen. Bisher habe ich nur herausgefunden, dass sie auf der Passagierliste eines Schiffs stand, das Liverpool an dem Tag verließ, als sie die Postkarte schrieb. Und ich kann jemanden, der sie gekannt hat, kaum fragen, ob er oder sie Kontakt mit ihr hatte, ach, und übrigens, wo wohnt sie denn zurzeit? Man liefert dem Klatsch nicht gern Zündstoff (haha, wie Julie sagen würde), und es versteht sich wohl von selbst, dass ich mir im Lauf der Jahre Feinde gemacht habe: neidische Rivalen, Politiker, über die ich hart geurteilt habe. Eigentlich möchte ich Hester sehr gern etwas erzählen können, ihr mehr bieten können als nur die vage Versicherung, dass ich Nachforschungen anstelle.
    Da war noch etwas. In den Leerstellen meiner Tage habe ich öfter über Julie nachgedacht, sie den Tränen nahe in diesem Restaurant in Soho gesehen, den Klang ihres Lachens gehört, mich an das Kind erinnert, das am Arm unseres Vaters hing und am Wasserrand ungeschickt Steinchen warf. Als ich mir eines tristen Abends Notizen aus Northrop Fryes Das moderne Jahrhundert für mein neues Buch machte, überwältigte mich die Scham, dass ich erst Hesters Drängen brauchte, um herausfinden zu wollen, was mit ihr passiert war, dass ich zu sehr mit öffentlichen Angelegenheiten beschäftigt war, um mit mehr als nur einem gelegentlichen Achselzucken an sie zu denken. Sie war mir viel weniger wichtig gewesen als meine Suche nach der Wahrheit und der ganze Rest. Das hatte ich so zwar nicht gedacht, aber offensichtlich hatte ich es angenommen. Ja, ich habe mich wieder öfter an das Flehen in ihren Augen erinnert, an die Herzlichkeit ihrer Umarmung, an das Lachen, das eigentlich kein Lachen war, an die plappernde, entschuldigende Stimme und das Lächeln, das ohne jeden Grund kam und wieder verschwand. Und an diese überbordende Liebe, die sie als Kind hatte, die brodelnde Erwartung, die Verletzlichkeit, die verständnislosen Tränen. Ach du meine liebe, liebe Julie, du bist meine Schwester, und ich habe dich nicht genügend geliebt.
    Dann war ich vor einigen Tagen auf einer Party, die mir keinen sonderlichen Spaß machte. Angesichts des Niedergangs der Labour-Regierung lag eine boshafte, fast sadistische Erregung in der Luft. Eine ungewöhnliche Menge junger Tories stand herum,

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