Die Frau, die zu viel fühlte - Roman
»Natürlich nicht zuschreibbar.« Sie erwiderte unverbindlich etwas über die große Erwartungshaltung und kehrte dann zu ihrer Mutter zurück, die Lehrerin gewesen war und die ganze Welt wie eine widerspenstige Schulklasse behandelte. Sie vermisste ihren Mann sehr und sagte immer, er würde am Tor auf sie warten, um ihr bei den Formalitäten zu helfen. Ich bedauerte, dass ich sie nicht kennenlernen würde. Schließlich setzte Sheila mich vor der Wohnung eines Freundes ab, den ich seit langem nicht mehr gesehen hatte und der darauf bestand, dass ich von dem politischen Leben, das ich führte, erzählen sollte, in diesem Augenblick das letzte Thema, worüber ich sprechen wollte.
Auf dem Rückweg fuhr sie von der Autobahn ab und in ein Dorf, wo wir vor einer Einfahrt zwischen zwei makellosen Blumenbeeten und einem frisch gemähten Rasen hielten, die zu einem großen Haus im Tudor-Stil führte. Die Sonne funkelte auf den Bleiglasscheiben und der messingbeschlagenen Tür. Eine Seite des Hauses war mit schlammfarbenem, totem Efeu bewachsen.
»Hier habe ich Julie abgeholt, um sie nach London mitzunehmen. Das werde ich nie vergessen: Julie rannte mit zwei riesigen Hunden heraus, die an ihr hochsprangen, und hinter ihr her kam ein Mann mit zwei prall gefüllten Koffern. Sie lachten beide, als er sie von hinten mit einem der Koffer anstieß. Er packte sie in den Kofferraum und begrüßte mich überschwänglich. ›Sie ist ein wunderbares Mädchen, und Sie müssen gut auf sie aufpassen.‹ Das werde ich nie vergessen. Oder genauer, den langen Kuss werde ich nie vergessen, den sie ihm direkt neben mir gab, und wie er ihr klatschend auf den Hintern schlug. Sie lachten noch immer, als wir losfuhren.«
»Wir können doch nicht einfach an die Tür klopfen, oder?«, fragte ich. »Sieht außerdem ziemlich verlassen aus.«
Sie wollte eben wieder losfahren, als ein Mann aus dem Haus kam und mit hoch erhobenen Händen winkend auf uns zulief. Uns blieb nichts anderes übrig, als zu warten.
»Sind Sie hier, um sich das Haus anzuschauen?« Er hatte sich ins Fenster gebeugt und redete zu laut. Wir dachten, er sei wütend, weil wir sein Haus anstarrten, doch er öffnete die Wagentür und sagte: »Kommen Sie rein und riskieren Sie ’nen Blick.«
Ich dachte, Sheila würde sofort klarstellen, dass wir keine potentiellen Käufer waren, doch sie stieg einfach aus. Also tat ich es ihr gleich. Dann kam sie jedoch direkt zum Punkt. »Sie werden sich nicht an mich erinnern. Aber ich habe Julie hier abgeholt. Ich fürchte, wir sind keine Käufer.«
»Ach du meine Güte!«, sagte er. »Julie! Das ist ja eine Ewigkeit her! Kommen Sie doch mit, gehen wir ins Haus.«
Er war kein Mann, den man auf Anhieb sympathisch fand: die welligen, grauen Haare an den Schläfen, das Grübchen im Kinn, die Brustbehaarung im offenen Hemd, die gebügelte, blaue Cordhose und die Wildlederschuhe, die gezupften Augenbrauen und die dünnen Lippen, vor allem aber die tief in den Höhlen liegenden Augen. Sein Gesicht hatte etwas Geglättetes und Wächsernes, das auf ein Face-Lifting hindeutete. Er gab sich noch immer große Mühe, die vermeintlichen Erwartungen an ihn als Mann zu erfüllen. Sein Akzent klang falsch, als würde er ihn sich erst aneignen. Kurz, er wirkte rundherum unzuverlässig, und doch hatte er uns willkommen geheißen, wobei er auch an der Jovialität noch arbeiten musste.
In dem teuer mit Leder und Samt ausgestatteten Salon läutete er ein Glöckchen und sagte einem orientalischen Mädchen in schwarz-weißer Uniform mit unnötig lauter Stimme, sie solle Tee bringen. Er bellte es als Befehl. Dann wies er uns Sitzplätze an. Sheila mochte ihn offensichtlich noch weniger als ich, sie schaute mich mit immer größer werdenden Augen an. Hoffentlich, dachte ich nur, hoffentlich sagt sie ihm nicht, dass ich Julies Bruder bin. Offenbar schien es ihm jedoch ziemlich egal zu sein, wer wir waren, er wollte nur unbedingt sein Haus vorführen.
Er rieb sich die Hände und zog sich beim Hinsetzen die Hose hoch. »Julie! Ich werde Julie nie vergessen. Wunderbares Mädchen. Meine Frau hat mich eben verlassen, also kann ich endlich sagen, was ich will. España, ich komme. Kannte sie nicht sehr lange. Habe mich oft gefragt, was aus ihr geworden ist. Ich kann nur eins sagen, wir hatten eine klasse Zeit. Jeden Penny wert, wenn ich so sagen darf. Den ich ihr auch gern gegeben habe. Lebhaft ist gar kein Ausdruck. Keine Sekunde langweilig. Man musste nur sagen … Aber
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