Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Frau, die zu viel fühlte - Roman

Die Frau, die zu viel fühlte - Roman

Titel: Die Frau, die zu viel fühlte - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Charles Chadwick
Vom Netzwerk:
ich will nicht ins Detail gehen. Ein paar Besuche im beschwingten Paris. Und was für einen Schwung die hatten! Julie war in jeder Hinsicht ihr Geld wert, auch wenn ich das selber sage. Wunderbares Mädchen, diese Julie«, wiederholte er.
    Er schaute überallhin außer zu uns, rieb sich die Hände, schniefte hin und wieder laut und zwirbelte sich die Augenbrauen, wie um sie flotter aussehen zu lassen. Sheila und ich schauten einander an und schüttelten beide leicht den Kopf. Einmal riss er die Augen weit auf, als würde die Erinnerung an Julie ihn erstaunen. Sie waren wässerig und blutunterlaufen. Über den grauen Schläfen wirkten seine Haare stumpf, wie frisch gefärbt. Er gab sich wirklich größte Mühe, sein Alter zu verbergen.
    Ich fragte ihn, wann er sie zuletzt gesehen habe.
    »Oje! Ewigkeiten her. Hat mich um ein Darlehen gebeten, nur damit sie über die Runden kommt. So was Ähnliches hat sie gesagt. Hab einen richtig schönen Batzen abgedrückt, wenn man’s bedenkt. Ein langes Wochenende. Nie wieder was von ihr gehört. Kein einziges Wort.« Er wandte den Blick wieder ab, spürte wohl unser Unbehagen. »Nichts gegen sie, verstehen Sie mich nicht falsch. Das ging bei Julie gar nicht.« Jetzt sah er uns direkt an. »Was gegen sie haben, meine ich.«
    Sheila war es, die als Erste aufstand, auf die Uhr schaute und sagte: »O Gott, es ist ja schon so spät.« In diesem Augenblick wurde der Tee gebracht. »Es tut mir wirklich leid. Sie waren sehr gastfreundlich.«
    Er blieb sitzen. Unser plötzlicher Aufbruch hatte ihn aus der Fassung gebracht, vermutlich dachte er, in der guten alten Zeit wäre so etwas nie passiert. »Na ja, hatte gehofft, ich könnte Ihnen mein bescheidenes Heim zeigen. Fünfundzwanzig Jahre lang. Wie auch immer, richten Sie dem alten Mädchen schöne Grüße von mir aus. Sagen Sie ihr, wann immer …«
    Er folgte uns zur Tür und stand dann winkend da, bis wir davongefahren waren. Lange Zeit sagten wir kein Wort.
    »Er wirkte beraubt«, sagte ich. »Seine Frau hat ihn verlassen. Einsam. Wollte, dass wir bleiben.«
    »Ein grässlicher, grässlicher Mann«, erwiderte Sheila. »Hat nicht einmal gefragt, wie es ihr geht.«
    »Was meinen Sie, Labour?«
    »Auf keinen Fall. Eindeutig Tory. Oder vielleicht ein Unabhängiger.«

VI
    Danach schwiegen wir lange. Ich war so angewidert von dem Gedanken an Julie in den Armen dieses Mannes, dass ich versucht hatte, etwas Freundliches über ihn zu sagen. Es ist eine Angewohnheit meines Berufs, dieses Bemühen um Fairness, sich etwas Positives zu überlegen, da der ganze Rest so negativ wird. Einerseits, andererseits … »Mann, wissen Sie überhaupt noch, wo links und rechts ist, so neutral wie Sie sich in letzter Zeit verhalten«, hatte ein Abgeordneter vor ungefähr einem Monat zu mir gesagt. Hatte ich früher eine Leidenschaft in mir gehabt, die jetzt ausgebrannt war? Hatte es seit diesem einen Mal in meiner Kindheit Augenblicke des Wagemuts gegeben? Ich erinnerte mich an Julie an diesem schrecklichen Tag, an das Kind in ihr, das immer noch durchschien. Dann wurde ich plötzlich wütend.
    »Ich kann’s ja ruhig aussprechen. Sie war eine Art Callgirl, nicht?«
    Ich hatte erwartet, dass sie mir nicht direkt antwortete, doch sie legte mir kurz die Hand aufs Knie und sagte: »Ich fürchte, das war sie. Zumindest zeitweise. Escortgirl ist das nettere Wort. Manchmal kam sie mit dicken Geldbündeln zurück. Natürlich, typisch Julie, gab sie es fast sofort wieder aus. Nicht nur für sich selber, nicht nur für Kleider. Sie machte den Leuten kleine Geschenke. Zahlte Schulden zurück. Auch bei mir. Sie bestand darauf. Wissen Sie, wichtig war ihr nur, dass sie in diesem Augenblick genau das tun konnte. Dann musste es wieder einen neuen Kunden geben. Ich weiß nicht, wie viele. Fragen Sie mich nicht. Ich sage das zwar nicht gern, aber so wie Julie war, dürfte sie sich wirklich bemüht haben, ihnen was zu bieten für ihr Geld.«
    »Na ja, das kann man wohl annehmen, nicht?«
    »Aber es dauerte nicht lange, und dann kamen die Tränen. Die Scham. Eine Scham gegen die andere.«
    Was gab es noch mehr zu sagen? Ich fragte sie nach ihrer Mutter, und sie meinte, dass sie es noch immer übertreibe. Sie hatte sie bei einem ihrer Besuche begleitet, und sie hatte sich sehr herrisch aufgeführt. »Aber so geht das doch nicht, Mr. Wie-immer-Sie-heißen, jetzt reißen Sie sich doch mal zusammen.«
    Sie zitierte ihre Mutter mit hochnäsiger Stimme, aber es lag auch viel

Weitere Kostenlose Bücher