Die Frau, die zu viel fühlte - Roman
tut mir leid, aber das ist alles. Ich habe mich auch gefragt … Auch mir fiel es schwer, ihr zu verzeihen.«
Jetzt stellte sie sich ihre Handtasche auf den Schoß und fing an, mit dem Verschluss zu spielen. Sie wollte gehen. Ich konnte den Ausdruck ihrer Augen nicht entziffern, als sie mich nun direkt anschaute. War es Trauer über die aufgefrischten Erinnerungen? Mitleid? Die Angst, versagt zu haben? Oder einfach nur Endgültigkeit? Ja, sie wollte das Thema abschließen. Sie hatte bereits zu viel gesagt.
»Ich bin Ihnen sehr dankbar«, sagte ich. »Das ist für uns beide schmerzhaft. Nur noch eine Sache. Auf ihrer letzten Postkarte schrieb sie, all ihre Schulden seien beglichen. Natürlich nicht die bei mir und Hester. Aber Ihnen muss sie doch auch etwas geschuldet haben.«
Sie umklammerte ihre Handtasche. »Ach ja. Jeder Penny. Mit Zinsen. Sie hinterließ mir einen Umschlag mit einem Zettel, auf dem einfach stand: ›Endlich, meine liebe Freundin, bist du mich los. Die restlichen Klamotten an Marie Curie oder Oxfam. Wenigstens das kann ich für die menschliche Rasse tun.‹ Die meisten Stücke, die sie gekauft hatte, um mit ihrer modischen Clique mithalten zu können, hingen noch im Schrank. Ich hatte keine Ahnung, dass sie ans Weggehen dachte. Zu der Zeit war ich gerade im Urlaub. Irgendjemand hatte ihr ziemlich viel Geld gegeben. Da waren ja auch die Reisekosten, und für die erste Zeit drüben brauchte sie ja auch etwas.« Sie hielt kurz inne. »Ich kann mir vorstellen, wer das gewesen sein könnte.«
Ihre Stimme verklang, und sie erhob sich so abrupt, dass sie mich überrumpelte. Dann drehte sie sich um, und mir blieb kaum Zeit aufzustehen. Sie streckte mir die Hand entgegen.
»Tut mir leid. Hab den Tomatensaft gar nicht angerührt«, sagte sie. »Aber vielen Dank.«
»Könnten wir …«, setzte ich an.
»Es ist zu … Na ja, es sind starke Erinnerungen, die bereits ein wenig verblasst waren. Wenn Sie wollen, können wir uns wieder treffen. Aber es gibt nichts mehr, was ich Ihnen sagen könnte. Ich hoffe, sie taucht eines Tages wieder auf. Falls Sie sie sehen, würden Sie ihr bitte sagen, dass Sheila sie vermisst hat und alles dafür geben würde, sie wiederzusehen? Etwas in dieser Richtung.«
Ich schaute ihr nach. Sie fummelte in ihrer Handtasche und hob dann die Hand zum Gesicht. Ein Taschentuch. Sie war gegangen, damit ich ihre Tränen nicht sah. Vermutete ich zumindest. Das war der Grund für die Unsicherheit in ihren Augen gewesen; die Gefühle waren den Gedanken voraus. Wenigstens wusste ich jetzt, dass Julie in Kanada angekommen war und Arbeit gefunden hatte, aber sehr viel weiter brachte mich das auch nicht. Ich versuchte mir vorzustellen, wie Julie Gartenschläuche und Spaten und Harken mit dem ihr so eigenen Eifer verkaufte, dabei immer wieder kicherte und hoffte, dass die Kunden das alles ebenso lustig fanden wie sie.
Aber immerhin war es ein Anfang. An diesem Abend erzählte ich Hester von meiner Begegnung mit Sheila, und sie sagte sofort: »Und wann fliegst du dann nach Kanada?« Sie sagte das leicht spöttisch, aber es war klar, dass sie genau das von mir erwartete. Ich stammelte unverbindlich, dass ich zurzeit ziemlich viel um die Ohren hätte, aber darüber nachdächte.
Meine wöchentliche Kolumne lief gut, und ich hielt mit meiner Meinung über die Parteitage nicht hinterm Berg. Was mir jedoch mehr denn je Kopfzerbrechen bereitete, war die Qualität der Debatten, oder genauer, der Mangel daran. Die Rhetorik war so schwach, die Eloquenz so erschöpft, die Argumentation so würdelos, dass ich allmählich die Hoffnung aufgab, jemals wieder etwas Konstruktives sagen zu können. Es gab keine Tiefen auszuloten. Aber dann fragte ich mich, ob ich nicht ganz einfach abgestumpft und bedeutungslos wurde, nur Bridgewell, der mal wieder eine seiner Tiraden abließ. Ich versuchte zurückzugreifen auf die sozialen und politischen Werte, die früher die politische Debatte vorangetrieben hatten, und es war, als hätten sie sich in Luft aufgelöst. Einiges davon floss in mein nächstes Gespräch mit Hester ein, und sie meinte, ich sollte mir einen Monat Auszeit gönnen und dann rechtzeitig zurück sein, um über die nächste Wahl herzuziehen.
Ich hatte schon einige Zeit das Gefühl, dass meine Arbeit, meine Gedanken der Vergangenheit angehörten, dass ich allmählich ausgeschöpft hatte, was ich Sinnvolles über irgendwelche Themen sagen konnte. »Mal wieder über was hergezogen, was, Johnny«, war
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