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Die Frau, die zu viel fühlte - Roman

Die Frau, die zu viel fühlte - Roman

Titel: Die Frau, die zu viel fühlte - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Charles Chadwick
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Zuneigung darin. Ich erzählte ihr, dass Hester sich ähnlich engagierte und ebenfalls dazu neige, den Leuten zu sagen, wo’s langgehe. Dann sagte sie mir, was sie in der folgenden Woche vorhabe: Sie müsse ihren Abgeordneten in seinen Wahlkreis begleiten. Als sie mich vor meiner Wohnung absetzte, bat ich sie herein, aber sie schüttelte entschieden den Kopf.
    »Es tut mir leid«, sagte sie, »es tut mir wirklich leid. Ich wusste ja ungefähr, was uns erwartet. Hätte ich das alles vor Ihnen verbergen können? Vielleicht musste ich das Elend des Ganzen mit jemandem teilen. Die Wahrheit …«
    Ich öffnete die Autotür. »Ach ja, die vermaledeite Wahrheit«, sagte ich bitter. »Das müssen wir respektieren, nicht? Was immer sie uns sagt.«
    Und so gingen wir auseinander. Ich fragte mich, ob ich Hester von meinem Besuch in Sussex erzählen sollte, erkannte aber dann, wie unmöglich das war. Hester hatte sich damit abgefunden, Julie als Mädchen zu betrachten, das zu sehr auf Vergnügen aus war und sich ein bisschen mehr hätte zusammennehmen sollen. Als Julie diese paar Tage bei ihr wohnte, hätte sie sich ihr auf keinen Fall anvertrauen können. Hester war ihre große Schwester, die keinen Leichtsinn durchgehen ließ und nur allzu bereit war, sie herunterzuputzen, weil sie über ihre Verhältnisse lebte. Mit Sicherheit hatte sie Hester in dem Glauben lassen wollen, dass sie sich bessern werde, dass es ihr gutgehe und sie hart arbeite. Vor allem waren die beiden wahrscheinlich wieder zu den Schwestern ihrer Kindheit geworden, Hester in der Erinnerung als der beste – ja einzige – Turm der Stärke.
    Bei meinem nächsten Gespräch mit Hester wollte ich ihr sagen, wann ich nach Kanada aufbrechen würde. Mein Redakteur hatte gemeint, ein bisschen zu leichthin für mein Gefühl, dass es ihm nicht schwerfallen würde, meinen Platz zu füllen, falls ich einen Monat oder so freinehmen wollte. (Außerdem ließ er noch etwas anderes durchblicken: »Könnten Sie nicht vielleicht ein bisschen weniger elitär schreiben, hm, Johnny?«) Und bis zur Veröffentlichung meines nächsten Buchs war es noch lange hin. Frye hatte mir den Titel gegeben: Die leere Landschaft. Ich wusste, wo Julie vor all diesen Jahren gearbeitet hatte, und ich würde sehr schnell herausfinden, dass sie dort keine Informationen mehr über sie hatten. In einem so riesigen Land würden Spuren bald kalt werden, ganz zu schweigen von der Möglichkeit, dass es sie südlich über die Grenze verschlagen hatte. Ich war mir sicher, das Ganze würde sich als Fryes dunkle und leere Landschaft erweisen. Zumindest würde ich mir dann nicht mehr vorwerfen müssen, es nie versucht zu haben. Und Hester würde mir mit Sicherheit auch nichts vorwerfen. Sie war hocherfreut, als ich es ihr sagte. »Der gute, alte Johnny«, sagte sie. »Ich wusste, dass du uns nicht im Stich lassen wirst.«
    Und so fand ich mich also im Park Plaza Hotel im Zentrum Torontos wieder. Ich sprach mit einem alten kanadischen Freund von der Fakultät für Politische Wissenschaften, der sich sehr zu freuen schien, von mir zu hören, und mich zum Abendessen einlud. Er und seine Frau sagten beide, sie läsen hin und wieder meine Kolumne, und meine Bücher gefielen ihnen. Ich »hielte noch die alte Fahne hoch«. Natürlich wollten sie wissen, was mich nach Kanada geführt hatte, vor allem zu einer Zeit, da es in Großbritannien politisch so viel Aufregendes gebe. Ich murmelte etwas von familiären Beziehungen, und sie beließen es dabei. Es gab viel zu viele andere Dinge zu diskutieren und Gedanken auszutauschen: über Afghanistan, den neuen US-Präsidenten, Kanadas Verfassungskrise wegen einer Minderheitsregierung vor etwa einem Jahr, mit der wir es auch bald zu tun bekommen könnten. Was für ein angenehmes Paar sie doch waren, mit klarem Kopf und offenem Herzen! Da war nichts von der aggressiven Überheblichkeit, an die ich so gewöhnt war und die fast so etwas wie eine Lebensart geworden war. Die Gespräche hatten eine gewisse Unschuld, doch keine der Naivität oder des schlichten Gemüts, es war eine Verweigerung des Hohns, sie wollten weder schlau noch zynisch klingen, sich nicht am Unbehagen anderer ergötzen. Es war die Unschuld der Höflichkeit. Ich erwähnte kurz die Gehässigkeit und oberflächliche Aufmerksamkeitshascherei der britischen Politik, doch sie wollten nichts davon hören und erinnerten sich lieber an die gute alte Zeit, die sie vor vielen Jahren in England verbracht hatten und für

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