Die Frau, die zu viel fühlte - Roman
die sie sehr dankbar waren. Ich sagte, ich wisse noch nicht, wie lange ich bleiben würde, aber sie luden mich ein, vor einer Gruppe ihrer graduierten Studenten über die politische Szene Großbritanniens zu sprechen, und wir vereinbarten einen Zeitpunkt am nächsten Tag. Es machte mich glücklich, diese guten Menschen wiederzusehen. Sie kamen aus dem Westen, und ich fragte mich, inwiefern diese riesigen, offenen Flächen sie zu dem gemacht hatten, was sie waren. Wo hatte ich erst vor kurzem gelesen, dass der vorherrschende kanadische Mythos der des Überlebens sei? War es das, eine herzensgute Robustheit, die mir das Gefühl gab, von einer kleinen, engen Insel zu kommen? Die Reise in Northrop Fryes Buch führte durch eine kanadische Landschaft, in der meilenweit Dunkelheit herrschte und überhaupt keine Lichter zu sehen waren.
Das erinnerte mich daran, dass Frye bemerkt hatte, was alles zerstört worden sei durch die Art sektiererischen Streitens, das für viele Menschen so viel interessanter ist als das wirklich menschliche Leben.
Ich vereinbarte einen Termin mit jemand aus der Personalabteilung des Kaufhauses, in dem Julie gearbeitet hatte. Ich musste nicht erklären, wer sie war und warum ich wissen wollte, wie lange sie dort gearbeitet hatte. Sie brauchten auch nicht lange, um die Antwort zu finden. Etwa zwei Jahre lang hatte sie in verschiedenen Abteilungen gearbeitet, aber es gab keine Nachsendeadresse. Ich wollte es eben dabei belassen, als der Angestellte eine Frau sah, die den Korridor entlangging, und sie zu uns winkte.
»Madame Gedächtnis ist schon seit einer Ewigkeit hier. Alles, woran sie sich nicht erinnert, ist der Erinnerung nicht wert.«
Die Frau kam zu uns, und ich nannte ihr Julies Namen und zeigte ihn ihr in der Kartei. Sie wischte sich schnell mit der Hand über den Mund und riss weit die Augen auf, dann lächelte sie, als würde ihr plötzlich wieder einfallen, dass ich ein Recht auf eine Begrüßung hatte. Dann nickte sie.
»Ach ja, Julie Bridgewell. Ich erinnere mich tatsächlich an sie. Das ist lange her, müssen Sie wissen. Dürfte ich erfahren, warum Sie nach ihr fragen?«
Sie schien an meiner Antwort gar nicht interessiert zu sein und schaute zurück in den Korridor, als hätte sie dort jemanden warten lassen. In ihrer Frage lag absolut keine Neugier. Eigentlich hatte sie mich nach dem knappsten aller Lächeln kaum angesehen. Ich konnte mir nicht vorstellen, sie irgendwohin auf ein Gespräch einzuladen. Um zu verhindern, dass sie davonlief, versuchte ich, nicht zu beiläufig zu klingen.
»Eine seit langem verlorene Verwandte. Als meine Familie hörte, dass ich nach Kanada gehe, um an der Universität einige Vorlesungen zu halten, bat sie mich, ein paar Nachforschungen anzustellen. Ich verstehe schon. Keine Nachsendeadresse, aber es ist keine völlige Sackgasse. Ich bin Ihnen sehr dankbar …«
Sie bat mich um meine Visitenkarte und sagte, sie werde mich im Hotel anrufen. Dann lächelte sie noch einmal, doch ganz anders, mit Herzlichkeit. Lange verlorene Verwandte waren offenbar sehr wichtig in einem Land, in dem die Leute so weit in die Ödnis des Vergessens reisen konnten.
Sie rief mich noch an diesem Nachmittag an und schlug mir vor, am folgenden Abend zwei von Julies alten Kolleginnen zum Essen zu treffen. Sie kam nicht selbst ins Restaurant, aber die beiden Frauen warteten auf mich. Mir waren die beiden sofort sympathisch. Sie wollten mir unbedingt von Toronto und seinen vielen Vorzügen erzählen. Beide waren als Teenager mit ihren Eltern aus Großbritannien gekommen und erzählten von den guten Zeiten, die sie gehabt hatten, wobei eine der anderen immer wieder ins Wort fiel.
Wie es klang, waren beide glücklich verheiratet, und jede hatte eine heranwachsende Tochter. Sie schienen sich zu schämen, dass sie nie zurückgekehrt waren, vor allem nach den vielen Familienfotos, die ihre Eltern ihnen gezeigt hatten. Für die Töchter war für den kommenden Sommer eine Kulturreise gebucht, zu der auch Stratford-upon-Avon und ein paar Kathedralen und Herrschaftshäuser gehörten. Sie sagten noch immer »die alte Heimat«, vielleicht nur aus reiner Höflichkeit. Man hatte fast den Eindruck, sie würden diese Reise selbst unternehmen, auf jeden Fall aber würden sie ihre Töchter anweisen, »Unmengen schöner Fotos« zu schießen. Ich fragte mich allmählich, ob sie vergessen hatten, warum wir hier waren, als wäre Julie ein Thema, das sie lieber mieden.
So sagte ich ganz einfach:
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