Die Frau, die zu viel fühlte - Roman
die Art von Kommentar, die ich bekam. Einmal hörte ich, wie man mich »Schwadroneur Bridgewell« nannte. Ich sei zu sehr in Ideen vernarrt, dachten die Leute, immer auf der Suche nach ewigen Wahrheiten mit meinen Bezugnahmen auf Berlin und Popper und Rousseau und Rawls und wen sonst noch. Inzwischen konnte ich meine eigene Stimme nicht mehr hören. Und die Wahrheit ist, dass ich das zum Teil Julie zu verdanken hatte. Immer wieder griff ich zu dem Ordner an der Ecke meines Schreibtisches, der inzwischen auch den Bericht über meinen Besuch bei Hester enthielt. Immer wieder, wenn ich die Augen schloss, um meinen nächsten Satz zu überdenken, und dabei versuchte, die Außenwelt im Blick zu behalten, war es Julie, die ich vor mir sah, am Meer, beim Verkauf von Gartengeräten, krank im Bett, all ihre Schönheit verschwunden, tränenüberströmt in Sheilas Armen. Mit meinem neuen Buch, in dem es darum ging, was unsere politische Debatte verloren hatte, kam ich kaum voran – es sollte auch den Titel tragen Was wir verloren haben. Und dann stieß ich in Fryes Das moderne Jahrhundert auf folgende Passage. Er beschreibt eine lange Zugfahrt.
Während das Auge passiv durch eine schnell sich bewegende Landschaft gezogen wird, wird es dunkler, und man bemerkt allmählich, dass viele Objekte, die draußen zu sein scheinen, tatsächlich Spiegelungen dessen sind, was sich im Abteil befindet. Während es völlig dunkel wird, betritt man eine narzisstische Welt, in der wir, bis auf einige Lichter hier und dort, nur die Spiegelungen dessen sehen, wo wir sind.
Das Hinterland der Werte in der politischen Landschaft, das ich so lange durchforstet hatte, war dunkel und leer geworden, und diese wenigen Lichter brannten hell wie Heimstätten in einem fremden Land. Was Sheila Smith mir über Julie erzählt hatte, deprimierte mich noch mehr, obwohl es nur das ergänzte, was ich bereits wusste. Es sollte noch schlimmer kommen.
Ich rief sie an, um ihr für ihre Zeit zu danken, und fragte zögernd, ob wir uns noch einmal sehen könnten. Zuerst sagte sie, dass sie mir wirklich nicht mehr zu sagen hätte. Sie schien schon auflegen zu wollen, deshalb stellte ich hastig die Frage, die mich am meisten beschäftigte. Wer, fragte ich, hatte Julie ihrer Meinung nach das Geld gegeben, mit dem sie das Ticket nach Kanada bezahlt und ihre Schulden beglichen hatte? Sie schwieg eine ganze Weile, bevor sie antwortete.
»Es gab da einen Bekannten oder was auch immer, mit dem sie sich kurz vor dem Ende ziemlich häufig traf. Ich bin mir aber nicht sicher …«
Vielleicht drängte ich sie zu sehr. »Könnte es nicht sein, dass er mehr über sie weiß, dass er weiß, was passiert ist …? Ich würde ihn gern kennenlernen.«
Wieder gab es eine lange Pause, dann seufzte sie. »Ich bin mir nicht sicher …«, setzte sie an. »Na gut. Ich verstehe. Wir beide … Nächstes Wochenende fahre ich nach Brighton, um meine alte Mutter zu besuchen. Die M23 führt nahe an dem Dorf vorbei, wo er lebt. Einmal habe ich Julie dort abgeholt. Wahrscheinlich ist er umgezogen, aber na ja, warum nicht …?«
Und so fuhren wir zusammen nach Brighton. Sie hatte ein für eine so konventionelle Frau ziemlich sportliches Auto, und mehr als einmal verkniff ich es mir zu fragen, warum sie es so eilig habe. Auf der Hinfahrt sprachen wir kaum über Julie.
Bei einem ziemlich dramatischen Überholmanöver zog ich hörbar die Luft ein, worauf sie sagte: »Sie hätten Julie fahren sehen sollen.«
»Ich dachte, sie hatte keinen Führerschein.«
»Hatte sie auch nicht. Ich sollte ihr Stunden geben. Das Theoretische hatte sie bestanden, Gott weiß, wie. Überholen war eine ihrer großen Leidenschaften.«
Die meiste Zeit sprachen wir über ihre verwitwete Mutter, die noch immer trotzig alleine lebte. Sie ließ sich von niemandem etwas sagen und war absolut entschlossen, ihr eigenes Leben zu leben und niemandem zur Last zu fallen. Wie Hester arbeitete sie im wohltätigen Bereich und machte Hausbesuche, obwohl sie das schon längst hätte aufgeben sollen. Mich interessierten eher die Jahre, die Sheila auf dem Land verbracht hatte, bevor sie wieder ins Parlament zurückkehrte, und ich fragte sie sogar danach, aber sie beugte sich nur kurz vor, als wollte sie ihr Gesicht vor mir verbergen. Ich fragte sie dann, wie sich der neue Job anlasse, doch in meiner Stimme schwang die professionelle Neugier mit, und ich machte das Ganze noch schlimmer, indem ich mit einem schnodderigen Lachen hinzufügte:
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