Die Frau, die zu viel fühlte - Roman
sie beruhigt. Ihre Augenlider senkten sich, und ich hatte schon Angst, sie würde einschlafen. Dann setzte sie sich aufrecht hin und starrte mich ziemlich grimmig an.
»Haben Sie Hunger?« Ich schüttelte den Kopf. »Meine hervorragenden Nachbarn haben mir Sandwiches gemacht, Schinken und Käse. Wenn Sie wollen …« Wieder schüttelte ich den Kopf. »Wenn Sie lange genug bleiben, verliere ich meinen kanadischen Akzent komplett und kehre zurück ins schnieke Shropshire oder was immer das war.«
»Kann ich Ihnen ein Sandwich holen?«, fragte ich nach einer weiteren Pause.
»Nein, aber da drüben steht ein Fläschchen mit Pillen.« Sie deutete mit gekrümmtem Finger darauf. »Wenn Sie mir die bringen und ein Glas Wasser.« Während ich beides holte, sagte sie: »Mit den gekrümmten Fingern sehe ich erst recht aus wie eine Hexe.«
Nachdem sie die Pillen geschluckt hatte, sagte sie: »Die werden immer besser. Die Schmerzmittel. Die Mittel gegen den körperlichen Schmerz, meine ich. Ich habe einen einigermaßen vernünftigen Arzt. Sehr hilfsbereit. Und sehr modern. ›Neueste Forschungsergebnisse‹, sagt er immer wieder.«
Mir fiel nichts mehr ein. Wieder starrte sie mich an, offenbar als würde sie sich überlegen, ob sie mir vertrauen könne. Also schloss ich an das an, was sie eben über Shropshire gesagt hatte, und fragte, wann sie nach Kanada gekommen sei.
»Als Teenager, kurz vor dem Krieg. Vater war Arzt. Das große sozialistische Experiment in Saskatchewan und das alles. Ein guter Mann. Na ja, das waren sie alle mit ihren loyalen Frauen.« Sie starrte mich weiter an, wie um sich zu versichern, dass ich auch alles verstand. Dann runzelte sie wieder die Stirn, als wäre sie über einen Fehler gestolpert. »Warum hier? Hatte einen Ferienjob als Zimmermädchen in diesem Monstrum am anderen Ende der Stadt und lernte einen englischen Bergsteiger kennen. Auch aus Shropshire, aber nicht so schnieke. Und das war’s dann. Es gibt nur wenige von diesen Gipfeln, auf die wir nicht geklettert sind. Glücklich sein ist möglich, egal was die Leute sagen. Im Hier und Jetzt, wenn man das Morgen vergisst, wenn Sie wissen, was ich meine. Das drohende Leid. Er bekam einen Job im National Park. Ich gründete meine kleine Schule. O Gott, was sind wir geklettert!«
Sie schaute wieder zum Feuer und seufzte tief. Sie schien nicht mehr zu sagen zu haben, ein Leben, zusammengefasst in wenigen Worten, ein Album, geschlossen mit einem Seufzen. Ich legte noch ein Scheit ins Feuer. »Und was ist mit Ihnen?«, fragte sie, als würde sie sich selbst aus einem törichten Traum reißen.
Ich erzählte ihr, dass ich »wegen meiner Sünden« mit Politik zu tun hätte, und sie nickte ohne Interesse. Erst jetzt wurde mir bewusst, dass ich ihr meinen Namen gar nicht genannt hatte. Ich fuhr damit fort, dass ich nie geheiratet hätte. Wieder fragte sie nicht nach, und so musste erneut ein Schweigen gefüllt werden. Dann fügte ich törichterweise hinzu: »Und auch keine Berge bestiegen, fürchte ich.«
Sie schaute mich an. Ich war mir nicht sicher, aber in ihren Mundwinkeln glaubte ich ein spöttisches Lächeln zu erkennen.
»Bitte verzeihen Sie mir«, sagte sie. Nun lag eine neue Höflichkeit in ihrer Stimme, wie die erste Begrüßung eines unerwarteten Gastes. »Das ist für mich nicht die beste Tageszeit. Ich frage mich, wäre es Ihnen vielleicht recht, am Abend noch einmal vorbeizuschauen? Sie haben nach Julie gefragt, und ich muss meine Gedanken sammeln. Würde fünf Ihnen passen? Ich glaube, ich habe noch irgendwo etwas Sherry, und mein guter Nachbar hat mir gestern Erdnüsse gebracht, als würde ich Gäste erwarten. Was sagt man dazu!«
Sie breitete die Arme aus, als ich aufstand und ihr dankte. Dann drohte sie mir mit dem Finger wie einem schwierigen Schüler.
»Wenn Sie nur ein Freund wären, der zufällig hier ist und sich über jemanden erkundigen will, den er nicht kennt, dann könnten Sie kaum erwarten, dass man Ihnen viel sagt, nicht? Man hätte dann ja keine Ahnung, wo die Grenzen der Diskretion sind, nicht? Einem Fremden könnte ich ganz knapp sagen: eine nette junge Frau, die ich vor langer Zeit kannte. Keine Ahnung, was aus ihr geworden ist. Die Leute ziehen fort. Wie alle meine Schüler. Ich habe keine Ahnung, was aus ihnen geworden ist. Den meisten. Nein, dann würde ich Ihre Zeit nicht beanspruchen, würde mich nicht fragen, was ein vermutlich ziemlich berühmter Akademiker Ende Oktober in Banff tut.«
Ich stand neben
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