Die Frau, die zu viel fühlte - Roman
offene Mund, das Zurückwerfen dieser langen, goldenen Haare, die hin und her huschenden Augen … Und der Klang dieser Stimme, ein Plätschern und Perlen wie ein Bergbach … Ach, was war das für ein Eifer in ihr! Und Freude. Als wäre sie jedes Mal gerade aufgewacht, und alles wäre schon da. Die ganze Welt. Bücher. Lake Peyto. Und Musik …«
»Ich wusste gar nicht, dass sie sich für Musik interessierte.«
Etwas Lahmeres hätte ich kaum sagen können. Meine Stimme hatte so spröde und sachlich geklungen. Das war der Klang meiner Prosa, hieß es. Wenn ich versuchte, ein wenig leichter zu klingen, wirkte das höchstens witzelnd. Manchmal hörte ich die Stimme meines Vaters, als ich mich auf mein Biggles-Buch oder was auch immer konzentriert hatte. Was hatte er gesagt? »Und nicht einen Funken Humor im Leib.« Wie anders er doch ist als Julie, muss sie sich in diesem Augenblick gedacht haben.
»Na ja, früher vielleicht nicht. Aber sie hörte sie im Centre. Die ganze Zeit liefen da irgendwelche Workshops. Es gab einen Wettbewerb für Streichquartette. Eines Nachmittags kam sie, und zur Abwechslung fehlten ihr einmal die Worte. Zu der Zeit hatte ich ein altes Grammophon mit Langspielplatten, und ich hatte auch einiges von der Musik, die sie gehört hatte. Beethoven-Quartette, Der Tod und das Mädchen und ein paar andere. Sie saß einfach da und lauschte. Musik, das war im Grunde genommen das Einzige, bei dem sie stillsitzen konnte. Es gab auch Pianisten. Ich konnte mir sehr gut vorstellen, wie sie in den Pausen oder nach Schichtende herumschlenderte und einfach zuhörte. Es gab auch Tränen, aber na ja, das schafft die Musik eben …«
Sie schaute mich an, weil sie meine Zustimmung hören wollte.
»Ich fürchte, ich hatte es nie so sehr mit der Musik. Natürlich gibt es Dinge, die man gerne mag …«
Sie machte meine Antwort nicht so lächerlich, wie sie war. »Na ja, man kann sie sich eben nicht ganz vom Hals halten, nicht? Wie auch immer. Ich habe jetzt CDs, aber meinen Plattenspieler und meine LPs habe ich behalten. Wenn ich die spiele, muss ich an sie denken. Aber, meine Güte, diese Begeisterung!«
Sie schien jetzt müde, ihre Stimme wurde dünn und undeutlich. Es klopfte an der Tür, und ein freundlicher, älterer Herr in Latzhose kam mit einer Kasserolle in den Händen herein. Er warf mir nur einen flüchtigen Blick zu, als er in die Küche ging.
»Zu Abwechslung mal kein Gemüseeintopf, sondern geschmortes Rindfleisch«, sagte er beinahe flüsternd. »Wir kommen später noch mal und wärmen es ein bisschen auf, hm? Entschuldigung für die Störung.«
Mit freundlichstem Grinsen schaute er jetzt auf mich herab, es freute ihn offensichtlich sehr, dass sie Gesellschaft hatte.
»Das ist Mr. Bridgewell, Denis. Julie Bridgewells Bruder. Du kannst dich doch noch an Julie erinnern, nicht?«
»Sehr erfreut«, sagte er und streckte mir die Hand entgegen. Ich stand auf. »Große Ähnlichkeit mit unserer Julie sehe ich nicht, um ehrlich zu sein. Was ist denn passiert …?«
Er schaute sie kurz an und wusste sofort, das war keine Frage, die er hätte stellen dürfen. Dann wiederholte er, dass er später wiederkommen werde, und eilte davon.
Es war jetzt eindeutig, dass sie müde war. Sie schluckte ein paar Pillen und fragte, ob ich mir noch die Zeit nehmen könne, am nächsten Vormittag wiederzukommen. Ich wollte ihr danken, wusste aber nicht so recht, wofür.
»Sie haben Julie offensichtlich sehr glücklich gemacht. Ich bin Ihnen dankbar.« Dann fing ich an zu stottern. »Ich … wir …«
»Heute Abend werde ich nichts mehr sagen. Aber Sie wurden geliebt, wissen Sie, Sie und Ihre Schwester. Sie sehnte sich nach Ihnen, wollte mit Ihnen zusammen irgendwo am Meer leben. Ihre Eltern, ich weiß nicht recht, ich war mir nie so ganz sicher, ob sie noch am Leben waren …«
Ich murmelte, dass sie gestorben waren, lange bevor Julie nach Kanada ging. Ihre Lider schlossen sich, und ich wusste nicht, ob sie mich überhaupt gehört hatte. Also dankte ich ihr noch einmal und ging. An der Tür schaute ich mich um. Ihr Kopf war zur Seite gesunken, und sie schlief.
Als ich in der Abenddämmerung den Hügel wieder hinunterging, türmten sich Wolken über den Bergspitzen, und der Himmel war weiß geworden. Die Frau im Hotel hatte am Morgen gesagt, dass wieder Schnee erwartet werde und ich mich warm einpacken solle. Die Berge hatten ihre Pracht verloren und waren zu einer gigantischen und arroganten Hässlichkeit der Natur
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