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Die Frau, die zu viel fühlte - Roman

Die Frau, die zu viel fühlte - Roman

Titel: Die Frau, die zu viel fühlte - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Charles Chadwick
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vermisste ich Julie schrecklich und vergoss ein paar Tränen für sie, da meine Reise nun ein Ende gefunden hatte. Gedanken, die bei Tagesanbruch und einem klaren, blauen Himmel wieder verflogen, als ich anfing, mir Notizen für meinen Vortrag zu machen, den ich vor diesen Graduierten halten würde – vielleicht, um ihnen etwas Hoffnung zu geben, denn all die Gründe für Verzweiflung würden sie bald genug am eigenen Leib erfahren.
    Mein Telefon klingelte, als ich eben nach unten zum Frühstück gehen wollte. Es war eine der Frauen vom vergangenen Abend. Sie entschuldigte sich für die Störung, wollte sich aber für das schöne Abendessen bedanken. Es sei wirklich etwas Besonderes gewesen, da sie kaum in Restaurants gingen, vor allem nicht in so feine französische. Dann sagte sie: »Mir ist noch etwas anderes eingefallen. Wie gesagt, sie redete von der School of Fine Arts in Banff, das Banff Centre, wie es jetzt heißt. Sie ging wirklich dorthin. Ungefähr einen Monat nach ihrer Abreise schickte sie mir eine reizende Postkarte aus den Rockies. Ich dachte mir einfach, dass Sie sie vielleicht gern sehen wollen. Natürlich meine ich, dass Sie sie haben können. Meiner Tochter sage ich immer, sie soll keine Erinnerungsstücke wergwerfen, weil, wissen Sie, man weiß ja nie, wo die Erinnerung doch so unzuverlässig ist.«
    Sie verhaspelte sich in ihren Sätzen und schien mir noch mehr zu sagen zu haben. Ich dankte ihr und sagte, ich würde die Karte sehr gerne sehen, und sie versprach, sie auf dem Weg zu dem Versicherungsbüro, in dem sie arbeitete und das fast nebenan lag, im Hotel vorbeizubringen. Ich habe sie jetzt vor mir.
    Meine Lieben Megs, Ihr könnt sehen, dass es hier wirklich schön ist. Ich werde für immer hier bleiben. Vermisse Euch sehr. Die von der Schule sagen, ich kann einen Job in der Küche haben. Alles, nur um hier sein zu können mit all der Kunst und der Musik, die hier abläuft. FALLS ES NICHT ZU VIEL MÜHE MACHT , könntet Ihr die Kaution für mein Zimmer vielleicht an die oben angegebene Adresse schicken? Viele Grüße an alle. Und VIELEN DANK ! Von Eurer alten Freundin und Arbeitskollegin, Julie.
    An diesem Abend rief sie noch einmal an, um sich zu versichern, dass ich die Karte auch erhalten hatte. Und es war ihr wichtig, mir zu sagen, dass sie Julies Kaution abgeholt und ihr geschickt hatte. Ich fragte sie, so beiläufig wie möglich, ob dies das Letzte sei, was sie von ihr gehört hatte. Wieder dieses Schweigen.
    »Ich weiß nicht so recht, Mr. Bridgewell, was ich Ihnen sagen soll. Ich würde es mir nie verzeihen. Sie geriet in Schwierigkeiten. Es stand in den Zeitungen. Habe es zufällig gesehen. Ist schon lange her, aber es könnte ja sein, dass sie noch immer froh ist um jede Hilfe. Das habe ich mich zumindest gefragt. Und mein Priester hat es mir auch geraten. Es tut mir so leid.«
    »Was für eine Art von Schwierigkeiten?«
    »Darüber will ich nichts sagen, weil es keine Details gab. Ich nehme an, Sie wollen dorthin fahren. Mehr will ich nicht sagen, weil es mich ja auch nichts angeht. Wie auch immer, ich dachte mir, es ist nur recht und billig, Ihnen das zu sagen. Aber na ja, noch einmal vielen Dank für das Abendessen … Was wir über Julie gesagt haben, stimmt, jedes Wort, sie war ein strahlender Leuchtturm in unserem Leben. Er leuchtete sehr hell. Sie war nicht wie wir. Nicht alle dachten genauso, aber es gab viele, die sie mochten.«
    Wieder dankte ich ihr, war mir aber jetzt ganz sicher, dass sie log. Vielleicht schämte sie sich, dass sie Julie nicht so sehr gemocht hatte, wie sie vorgab. Ich sagte, ich hoffe, ihre Töchter würden ihre Reise nach England im Frühjahr genießen. »Sie müssen Ihnen unbedingt eine Postkarte schicken«, fügte ich hinzu.
    »Wir haben ihnen schon gesagt, eine jeden Tag, sonst …!«
    So kam es, dass ich nach dem Seminar in einen Zug nach Banff stieg. Geschneit hatte es nicht mehr, aber hier und dort auf den Feldern und zwischen den Felsen auf den Hügeln lagen weiße Flecken. Es war eine lange Reise, und ich kam mit meinem Lektürepensum gut voran: Lawrence James’ Aufstieg und Fall des Britischen Reiches, The Ends of Life von Keith Thomas, What’s the Right Thing to Do von Michael Sandel. Außerdem las ich einen sehr schönen Roman, den Hester mir empfohlen hatte: Haus ohne Halt von Marilynne Robinson.
    Doch trotz all dieser Gesellschaft auf meiner Fahrt durch die kanadischen Weiten und Weizenfelder sah ich im lehmweißen Himmel und den sich

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