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Die Frau, die zu viel fühlte - Roman

Die Frau, die zu viel fühlte - Roman

Titel: Die Frau, die zu viel fühlte - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Charles Chadwick
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geworden. Hat auch Julie sie manchmal so gesehen, ihre schroffe, verächtliche Gleichgültigkeit, drohend aufragend über dem armseligen, flüchtigen menschlichen Leben, das zu ihren Füßen wuselte? In der hereinbrechenden Dunkelheit rutschte ich aus und wäre beinahe gestürzt, und ich streckte die Hand aus, als würde ich Julie neben mir erwarten, Julies Hand, die meine packte, wie sie es einmal getan hatte, als wir zum Strand hinunterliefen, um Steine ins Meer zu werfen, und sie dabei beinah selbst gestürzt wäre, weil sie zurückschaute zu unseren Eltern, die oben standen, einen Verlobungsring aufblitzen sah und sich verzweifelt wünschte, dass sie glücklich wären.
    Als ich am nächsten Vormittag zurückkehrte, rief sie nach draußen, ich solle die Tür öffnen und einfach hereinkommen, und sagte dann, oder genauer, befahl es mir, ich solle für uns beide Kaffee kochen. Ihre Barschheit überraschte mich, und ich konnte mir gut vorstellen, wie streng sie als Lehrerin gewesen war. Das Feuer brannte bereits, und sie bat mich, noch ein Scheit aufzulegen.
    »Das machen meine Nachbarn auch. Kommen jeden Morgen und fegen den Kamin und legen frisches Holz auf, so dass ich nur noch ein Streichholz anzünden muss.« Sie wartete, bis ich mich gesetzt hatte. »Gut«, sagte sie und klatschte sich auf die Knie. »Haben Sie gut geschlafen? Man schläft gut in dieser klaren Höhenluft. Zumindest früher. Und jetzt wieder.«
    Sie schien darauf zu warten, dass ich anfing, beobachtete, wie ich meinen ersten Schluck Kaffee trank, als wollte sie studieren, wie ich es machte, ein Besucher aus einer anderen Zivilisation.
    »Julie. Sie besuchte Sie. Schlief ab und zu hier, haben Sie gesagt, glaube ich.«
    »Ja, und zündete das Feuer an, hackte ein paar Scheite. An ihren freien Abenden machte sie bei mir Großputz. Das machte sie sehr gerne, sagte sie wenigstens. Eine Abwechslung vom Putzen im Wohnheim.«
    »Sie war Zimmermädchen?«
    »Entweder das oder in der Küche. Sie kochte auch für mich, brachte mir alle möglichen Leckerbissen: Schokolade, Spargel, Schottischen Früchtekuchen, alles Mögliche, einmal sogar einen Hummer. Meine Nachbarn waren ein bisschen verstimmt, aber sie mochten sie sehr gerne, wie Sie vielleicht schon bemerkt haben. Sie brachte auch ihnen Sachen. Auch sie bekamen einen Hummer, wenn ich mich richtig erinnere. Sie brachte mir nie etwas, ohne auch an sie zu denken. Sie sagte es nicht, dachte es vielleicht nicht einmal, aber vielleicht betrachtete sie es als Gegenleistung für das, was sie für mich taten.«
    »Sie wäre sicher eine gute Hausfrau geworden«, sagte ich.
    Das war eine dumme Bemerkung, und ihr Stirnrunzeln war ein Tadel. »Wie können Sie so sicher sein, dass sie keine geworden ist?«
    Ich schüttelte den Kopf und nickte dann. »Natürlich«, sagte ich. »Ich wollte nur …«
    »Ja. Es war nicht nur an ihren freien Tagen. Manchmal kam sie auch am Abend noch vorbei. Sie wusste, dass ich immer da war. Und auf sie wartete. Was ich in gewisser Weise auch tat. Wir hörten Musik, aber oft wollte sie mir auch einfach nur etwas vorlesen. Ich suchte immer das Buch aus. Aber eigentlich war es unwichtig. Ziemlich oft war es Kunstgeschichte. Über den einen oder anderen Maler lesen, sich die Reproduktionen anschauen.«
    Sie deutete auf die Bücherregale. Wieder entstand ein Schweigen, und ich glaubte, sie erwartete von mir, dass ich es füllte.
    »Sie belegte einige Kurse im Ryerson College in Toronto. Wusste aber nicht so recht, wofür sie sich entscheiden sollte, hat man mir zumindest gesagt.«
    »Eigentlich war es auch ziemlich egal. Ich meine das nicht böse. Wenn ich Poesie erwähnte, wollte sie sofort wissen, wer meine Lieblingsdichter sind, dann suchte sie die Bücher heraus und las sie mir vor. Tennyson, soweit ich mich erinnere, einmal sogar Dylan Thomas, ausgerechnet Fern Hill . Sie sagte, sie verstehe es überhaupt nicht. So richtig habe ich es ja auch selbst nicht verstanden. Aber wenn sie es las, merkte man davon nichts. Sie ließ sich richtig mitreißen. In dieser Bildlichkeit, dieser Überfülle kann man sich schier vergessen.«
    »Wie lange dauerte das? Wie lange kannten Sie sie?«
    »Fünf, sechs Monate, so in der Richtung.«
    Sie wartete auf die nächste Frage, aber ich hatte keine. Julie war in ihrer Erinnerung noch sehr lebendig. Sie war nachdenklich geworden und starrte ins Feuer, die Augen wässerig im flackernden Schein der Flammen. Und auch für mich war Julie präsent, als würde

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